Tagung der AG Zivilgesellschaft-11-2019

Tagung der AG Zivilgesellschaft, Berlin, 25.-27. November 2019

Die Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ des Petersburger Dialogs tagte am 25.-27. November 2019 in Berlin zur Frage von „Methoden der Zivilgesellschaft im Umgang mit Gewalt und zu ihrer Verhütung“.

Den Vorsitz der Sitzung hatten inne:

  • Dirk Wiese, MdB, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Auswärtiges Amt, Koordinator der AG „Zivilgesellschaft“ von deutscher Seite
  • Michail Fedotow, Professor an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics Moskau (HSE), Koordinator der AG „Zivilgesellschaft“ von russischer Seite

Die Sitzung der Arbeitsgruppe gliederte sich in drei thematische Diskussionen zu verschiedenen Aspekten des Problems der Gewalt in der modernen Gesellschaft. Außerdem wurden, wie üblich, aktuelle Probleme der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland und Deutschland erörtert und die Planung für 2020 festgelegt.

 

  1. Thema: „Gewalt im staatlichen Bereich: Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Kontrolle des Gewaltmonopols“

Im ersten Teil der Tagung schilderte Polizeioberrat Ziegler zunächst den Umgang der Berliner Polizei bei öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen, speziell in Lagen, bei denen Gewalt möglich erschien sowie das Verfahren bei Überschreitungen durch die Polizei.

Der Leiter der Nichtregierungsorganisation „Komitee für die Menschenrechte“, Andrej Baburin, berichtete über die Erfahrungen aus Moskau, wo die Polizei bei Versammlungen in der Regel angemessen im Rahmen des Polizeigesetzes agiere. Es gebe aber Fälle, wie z. B. im Vorfeld der Wahlen im Juli/August 2019, mit willkürlichen Verhaftungen Unbeteiligter und übermäßig lang anhaltendem Gewahrsam von Personen, die in Polizeireviere gebracht worden waren.

Die stellvertretende Leiterin der Gesellschaftlichen Beobachtungskommission der Stadt Moskau, Ewa Merkatschowa, führte aus, welche Maßnahmen die Zivilgesellschaft ergreife, um Gewalt im Justizvollzug vorzubeugen und stellte ein System der öffentlichen Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte im Strafvollzug vor.

In der Diskussion wurde von den Teilnehmern hervorgehoben, dass dort, wo Versammlungen zu Gewalt geführt haben, es oft einen Mangel in der Kultur des Dialogs zwischen den Behörden und den Organisatoren der öffentlichen Versammlungen gegeben habe. Zum Vergleich der Rechtslage sei interessant, dass russische Gesetze präziser gegen Polizeigewalt oder gar Folter formuliert seien als die deutschen, jedoch entspreche die Praxis der Rechtsanwendung nicht immer den Anforderungen. Zudem wurde die Bedeutung der beruflichen Bildung bei der Polizei hervorgehoben. Als problematisch wurde es erachtet, wenn mit Polizeieinsätzen Politik gemacht wird. In diesem Zusammenhang wurde hervorgehoben, dass in den postkommunistischen Ländern am Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Gewalt von Seiten des Staates ihre Legitimität in den Augen der Bürgerinnen und Bürger verloren habe. Daher sei ein ständiger Lernprozess nötig, der auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte der Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols einschließt.

Die Diskussionsteilnehmer betonten, dass es wichtig sei, das Vertrauen und den Respekt gegenüber der Polizei als wichtigem Institut des modernen Rechtsstaats zu festigen. Die Bewertung von Polizeiarbeit müsse unbedingt die gesellschaftliche Bewertung dessen beinhalten, wie erfolgreich die Polizei die öffentliche Ordnung bei der Durchsetzung der friedlichen Versammlungsfreiheit gewährleistet.

 

  1. Thema: Gewalt im öffentlichen Bereich: „Gewalt oder Gewaltlosigkeit: Welche Vorbilder bietet unsere Kultur?“

Der zweite Teil der Tagung widmete sich der Gewalt in der Kultur. Dana Jirous schilderte die Wechselwirkung von personaler und struktureller Gewalt. Gewalt in der Kultur diene unausweichlich der Legitimation von Gewalt im Alltag und auf der Straße. Zivilgesellschaftliche Projekte, wie sie Owen e.V. etwa mit Frauen im Donbass durchführe, stellen die Frage, ob im Konflikt Dialog möglich ist und, wenn ja, wie die Zivilgesellschaft diesen organisieren kann.

Anna Kljutschkowa fragte in Ihrem Vortrag danach, wie sehr Gewalt unter Jugendlichen im Trend sei und wie Gewaltszenen in Filmen etc. sie prägen. Ihrer Meinung nach fehlten Gesetze gegen die Propaganda der Gewalt. Auch der Psychologe Sergej Jenikolopow schilderte die in Filmen geweckte Erwartungshaltung, dass etwa ein Angreifer mit Gewalt zur Strecke gebracht werden müsse.

Die Diskussion richtete sich vor allem auf die Frage, ob Verbote hier sinnvoll seien, zumindest im Jugendschutz, oder ob sie nicht zur Zensur führen könnten. Ein weiterer Aspekt richtete sich auf Methoden der Erziehung zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit. Es wurde festgestellt, dass auch alte Märchen Beschreibungen von Gewaltszenen enthielten, teilweise aber auch die Darstellung von Strategie und Taktik für den Widerstand gegen Gewalt. Zudem wurde darauf verwiesen, dass durch das Militär und Werbung für den Dienst in der Armee bestimmte Gewaltformen in den Augen der Bevölkerung Legitimität erlangten. Zudem wurde auf bestimmte verfestigte Gewalttraditionen unserer Gesellschaften hingewiesen. Diese seien vor allem männlich geprägt. Daher könnte eine breitere Einbindung von Frauen bei der Propagierung einer Kultur der Gewaltlosigkeit helfen. Jedoch gebe es auch unter Frauen leider „männliche“ Verhaltensmuster, wo man Stärke zeige.

Die Diskussionsteilnehmer hoben hervor, dass angesichts des in einigen EU-Ländern anwachsenden Antisemitismus und schwindender Kenntnisse über den 2. Weltkrieg die moralische Bildung wichtig sei. Hier sei auch die Schule gefragt. In ihr sollte die unverfälschte, klassische Literatur eine würdige Rolle spielen. Allen Klagen über eine Verrohung der Kultur zum Trotz habe jedoch bereits ein erheblicher Zivilisierungsprozess stattgefunden. Beispielsweise, wenn etwa Gewalt in Schulen heute deutlicher und schneller aufgearbeitet werde. Andererseits könnten autoritäre Lehrer aber auch selbst ein Problem sein.

 

  1. Gewalt im privaten Bereich: Zivilgesellschaft gegen häusliche Gewalt

Ein dritter Aspekt des Problems der Gewalt in der modernen Gesellschaft ist häusliche Gewalt. Susanne Hesemann stellte einleitend die Arbeit zu diesem Thema im Rahmen der Städtepartnerschaft Hamburg-St-Petersburg vor. Die Städtepartnerschaft biete einen guten Rahmen für den Erfahrungsaustausch. Stets werde auch das Thema Geschlechtergerechtigkeit thematisiert. Zur Prävention von Gewalt gehöre u. a. auch die Frage der ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen.

Heike Herold stellte die Rolle der Zivilgesellschaft in Deutschland bei der Lösung des Problems der häuslichen Gewalt dar: Sie biete Beratung und Schutz, unterhalte Frauenhäuser sowie zur Prävention auch Täterberatungsstellen. Zudem sei sie in der Lobbyarbeit aktiv, um für zusätzliche effiziente Maßnahmen im Bereich der Gesetzgebung und der Rechtsanwendung zu werben. Nach Auffassung der Sitzungsteilnehmer brauche es zum Schutz vor häuslicher Gewalt insbesondere polizeiliche Maßnahmen, strafrechtliche Sanktionen, aber auch Vorschriften im Zivilrecht (Umgangsrecht). Es wurde betont, dass die Istanbul-Konvention alle Staaten verpflichte, die Zivilgesellschaft in die Bekämpfung häuslicher Gewalt einzubinden.

Die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulman trug die wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs vor, der derzeit im Föderationsrat vorbereitet wird. Es gehe darum, zunächst Begriffe zu definieren und Prävention zu fördern sowie erstmals polizeiliche Schutzmaßnahmen einzuführen. Es gebe zwar weiterhin politischen Widerstand gegen diesen Gesetzentwurf durch einige soziale Gruppen, aber auch Unterstützung, etwa durch Stars aus der Bloggerszene.

Die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes werde auch von Polizisten gesehen. Belastbare Zahlen zur häuslichen Gewalt könne es nicht geben, da die Latenz in diesem Bereich sehr hoch ist. Es sei aber bezeichnend, dass viele Frauen wegen Ermordung ihrer Ehemänner oder Lebenspartner in Gefängnissen sitzen.

Rima Scharifullina aus St. Petersburg ergänzte, dass es bereits viele Gesetzentwürfe zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt gegeben habe. Ihre Organisation war an der Ausarbeitung eines solchen Gesetzentwurfes beteiligt und ist dann aufgrund der Finanzierung aus dem Ausland in die Liste der gemeinnützlichen Organisationen, die als ausländische Agenten gelten, aufgenommen worden.

In der Diskussion wurde auch gefragt, ob Schläge im häuslichen Umfeld in Russland wieder eine Straftat werden sollen und ob statt Geldstrafen, die das Familienbudget belasten, andere Strafen, wie verpflichtender Arbeitseinsatz sinnvoller sind.

 

  1. Aktuelle Probleme

Die AG diskutierte zudem aktuelle Themen, die die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften belasten. Jahrelange russische Partner deutscher NROs kämen nicht  nur zeitweise nach Deutschland, sondern verlegten teilweise ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft. Zu den Problemen, die Beachtung erfordern, gehören: Das Gesetz, nach dem nun auch natürliche Personen zu „ausländischen Agenten“ werden könnten, die Auflösung von NROs wie der „Bewegung für Menschenrechte“ oder „People in Need“, die überraschenden Umbesetzungen des Rats für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Menschenrechte beim  Präsidenten. Die Sitzungsteilnehmer wiesen darauf hin, dass die Zivilgesellschaft immer noch nicht genug Möglichkeiten habe, um ernsthaft auf von der Staatsmacht getroffene Entscheidungen Einfluss zu nehmen, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene. Zugleich gibt es überzeugende Beispiele dafür, dass der Dialog mit der Öffentlichkeit den Behörden geholfen hat, einen Konflikt zu entschärfen und eine optimale Variante zur Lösung konkreter Probleme zu finden. Die Selektivität bei der Rechtsanwendung ist nach wie vor eine ernsthafte Herausforderung. Die Teilnehmer brachten insbesondere ihre Besorgnis im Zusammenhang mit den zahlreichen Geldstrafen zum Ausdruck, die einer der ältesten Menschenrechtsorganisationen in Russland, „Memorial“, wegen Verstößen gegen das Gesetz über ausländische Agenten gerichtlich auferlegt wurden. Michail Fedotow stellte die juristische Fehlerhaftigkeit der Gesetzgebung über ausländische Agenten dar und gab der Hoffnung Ausdruck, dass der Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Menschenrechte seine Bemühungen um die Korrektur selbiger fortsetzt.

 

  1. Planungen

Die Arbeitsgruppe vereinbarte, für 2020 folgende Veranstaltungen zu planen:

  • April: Runder Tisch zur öffentlichen Kontrolle von Menschenrechten in Gefängnissen, Deutschland (NRW)
  • /12. Mai: Runder Tisch in Shelesnowodsk (Region Stawropol, Russland) zum Thema „Das Erbe von Doktor Haaß und die Moderne“, Shelesnowodsk, Region Stawropol, Russland
  • Juni: Schule junger HistorikerInnen (mit der FES und dem Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte), Russland
  • Juli: Runder Tisch zum Thema „Soziale Rechte – Pflegefamilien als Objekt der Fürsorge der Zivilgesellschaft“, Chanti-Manssijsk, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen-Jugra, Russland
  • September: Runder Tisch zur öffentlichen Kontrolle von Menschenrechten in Gefängnissen, Russland
  • Sozialforum „Rehabilitierung von Strafgefangenen (Jugendliche und Frauen), Termin noch zu klären)
  • November: Runder Tisch zu Jugendaustausch, Deutschland

Für die Haupttagung des Petersburger Dialogs soll das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ (gemeinsam mit der AG Wirtschaft) sein.