Sitzung der AG Zukunftswerkstatt auf dem 10. Petersburger Dialog in Jekaterinburg, 13.-15. Juli 2010

Die Arbeitsgruppe Zukunftswerkstatt befasste sich unter der Leitung von Alexander Rahr und Natalja Tscherkessowa mit dem Thema „Historische Schlüsselereignisse 1939-1945, Kalter Krieg, 1989-1991 als identitätsstiftende Grundlagen für Nationenbildung in Europa im 21. Jahrhundert“.

Im Jahre 2010 begehen Russen und Deutsche mehrere Jubiläen, die in beiden Ländern und insbesondere in den Staaten Mittelosteuropas zum Teil immer noch unterschiedlich gesehen werden. Deutschland und Russland führen seit der Wende einen intensiven Geschichtsdialog, der inzwischen zu sichtbaren Resultaten, wie z.B. die gemeinsame Schulbuchkommission, geführt hat. Auch in den Beziehungen Russlands zu den Staaten Mittelosteuropas, bei denen verschiedene Interpretationen der Rolle der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg bislang zur erheblichen Belastung führten, sind Fortschritte zu verzeichnen. Doch sind die deutschen Partner besorgt, dass Russland die Selbstbefreiung vom Kommunismus oft nicht entsprechend würdigt und nicht zur vollständigen Aufarbeitung seiner kommunistischen Vergangenheit bereit ist, was eine weitere Demokratisierung des Landes verhindert. Die russischen Teilnehmer unterstrichen, dass gemeinsame Werte eine Grundlange in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland auf allen Ebenen bildeten. Diese Werte hätten ihren Ursprung im Selbstverständnis jeden Volkes. Das Selbstverständnis des russischen Volkes basiere auf historischer Gemeinsamkeit. Die russische Nation bildete sich anhand historischer Ereignisse, wie die Annahme des Christentums, die Vertreibung der Mongolo-Tataren etc. heraus. Doch im Jahre 1991 vollzog sich ein Bruch im historischen Bewusstsein der Russen, der zum Zerfall der fundamentalen Werte führte. Die Religion oder Familie spielten im heutigen Russland nicht so eine bedeutende Rolle, wie es früher die gemeinsame Geschichte gespielt habe. Der Zerfall der fundamentalen Werte in der Gesellschaft und bei den Eliten führe unweigerlich zum Vertrauensverlust dem Staat gegenüber und somit zum unterschwelligen Widerstand gegenüber allen Reformen von oben, wie auch dem Modernisierungsvorhaben von Präsident Medwedew. In seinem Einführungsvortrag erinnerte ein deutscher Referent die Teilnehmer daran, dass das 20. Jahrhundert durch sich bekämpfende Ideologien und Wertesysteme geprägt war, die sowohl ihre Gegenwart als auch ihre Geschichte immer wieder zu eigenen Gunsten zu deuten suchten. Insbesondere der Zweite Weltkrieg und die Errichtung des kommunistischen Lagers in den Staaten Mittelosteuropas wurden zum Ursprung für verschiedene Interpretationen. Die Sowjetunion erklärte den Sieg über Hitlerdeutschland zum eigenen Sieg und zum Triumph der einzig wahren kommunistischen Ideologie über den todgeweihten Kapitalismus. Im westlichen Bewusstsein wurden sowjetische Kriegsverdienste durch die kommunistische Diktatur im Mittelosteuropa schnell verdrängt. Der Beginn der Perestroika unter Gorbatschow markiert eine entscheidende Wende im Umgang mit der Geschichte. Die Wahrheit über Stalin, seine Terrorherrschaft, unnötige Kriegsopfer und die Gräuel des sowjetischen Geheimdienstes kamen nach und nach ans Licht. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus erlebte Russland nicht nur einen Identitätsverlust, sondern musste auch die eigene Geschichte, insbesondere die nach 1917, neu schreiben. Doch diese Neuinterpretation stieß schnell an ihre Grenzen: Der Sieg über Hitlerdeutschland bleibt für Russen das zentrale und identitätsstiftende Ereignis des 20. Jahrhundert. Die Mehrheit sei nach wie vor überzeugt, dass die Rote Armee Europa von Hitler „befreit“ habe und man ist auf keinen Fall bereit, den Faschismus mit dem Kommunismus zu vergleichen oder gar gleichzusetzen. Mit diesen zwei russischen Grundüberzeugungen werde die Welt wohl noch lange zu tun haben.

Für einen russischen Teilnehmer stellt die „Neuinterpretation“ der Geschichte ein Element im Konkurrenzkampf zwischen den Staaten dar. Er plädierte für einen historischen „Nichtangriffspakt“ zwischen Russland, dem Westen und den Staaten Mittelosteuropas, der darin bestehen könnte, sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren und dem Partner die andere Sicht auf bestimmte Dinge einzugestehen. Ein deutscher Teilnehmer wies darauf hin, dass Deutschland auch lange ein Identitätsproblem in Bezug auf den eigenen Patriotismus gehabt habe, es in den letzten Jahren jedoch eine positive Entwicklung gegeben habe. Seiner Meinung nach, steht Russland dieser Prozess der Identitätsfindung noch bevor. Ein weiterer russischer Teilnehmer hob den Generationenunterschied in der Geschichtswahrnehmung hervor. Er unterschied zwischen der Generation, welche die Sowjetunion noch bewusst miterlebt hat und der Generation der nach 1985 geborenen. Für die Generation der 16-25jähringen spiele die Geschichte keine bedeutende Rolle. Dem Zweiten Weltkrieg würden sie nicht mehr Bedeutung als dem Napoleon-Krieg von 1812 beimessen. Für die ältere Generation sieht er in Stalin eine identitätsstiftende Figur, für die bislang noch kein Ersatz gefunden werden konnte. Für eine junge Vertreterin des Gebietes Swerdlowsk seien die gegenwärtigen Geschichtsdebatten viel zu sehr theoretisiert und rückwärtsgewandt. Sie rief die Teilnehmer auf, sich auf die Zukunft zu orientieren und eher Probleme und Aufgaben im Bereich der Wirtschaft zu behandeln, denn diese, so die junge Frau, werde unsere Identität und Erfolge in Zukunft bestimmen. Ein weiterer russischer Teilneher widersprach der Vorrednerin und stellte interessante Ergebnisse repräsentativer Umfragen vor. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben der Zweite Weltkrieg und sowjetische Erfolge in der Erschließung des Weltraumes für Russland die zwei einzigen identitätsstiftenden Ereignisse aus den letzten 100 Jahren. Das Interesse am Zweiten Weltkrieg sei in den letzten 10-15 Jahren eher gewachsen und nicht gesunken. Auch das Wissen über die Grausamkeiten des NKWD, über die unnötig hohe Zahl an Opfern etc. mindere für die Mehrheit der russischen Bevölkerung keinesfalls die Bedeutung des Sieges. Der russische Teilnehmer zitierte weitere Umfrageergebnisse, die die große Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Realität offenbaren. Zwar sei der Großteil der Bevölkerung Verfechter der demokratischen Staatsordnung, doch nur eine Minderheit sei bereit sich dafür einzusetzen. Die Mehrheit sei für Ordnung und Sicherheit, doch wenn es um die Frage der Einhaltung von Gesetzen geht, gibt die Mehrheit zu, gelegentlich Gesetze zu brechen. Viele trauern dem Verlust des Imperiums nach, doch die Umfragen während der letzten Ereignisse in Kirgisien haben offenbart, dass kaum einer bereit war, sich aktiv in das Geschehen einzumischen und somit Kirgisien enger an Russland zu binden. Die von seinem Institut durchgeführten Umfragen zeigten auf, dass folgende Werte nur plakativ existieren und nicht „gelebt“ werden: Eigenständigkeit der Person, Verantwortung und Solidarität. Ein regionaler Duma-Abgeordneter sieht ebenfalls ein großes Zukunftsproblem für Russland im mangelhaften Zivilbewusstsein. Die russische Bevölkerung warte einerseits darauf, dass „die da oben“ ihre Probleme lösen würden, sei aber andererseits nicht bereit, Reformen und Initiativen von oben zu unterstützen. Seiner Meinung nach solle sich Russland an die erfolgreiche Selbstverwaltung im Mittelalter erinnern und gleichzeitig Hilfe von außen bei der Bildung der russischen Zivilgesellschaft einholen. Eine deutsche Teilnehmerin stellte fest, dass auch in Deutschland der Prozess der Geschichtsaufarbeitung bei weitem noch nicht abgeschlossen sei. Vielmehr stehe die deutsche Politik vor neuen Herausforderungen angesichts des demographischen Wandels und der Tatsache, dass in großen Städten inzwischen 48% der Dreijährigen einen Migrationshintergrund haben und somit keine Nachfahren der „Täter“ aus dem Zweiten Weltkrieg sind. Die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als Folge des Krieges und des Holocaustes sei Kindern aus Familien mit türkischen oder arabischen Wurzeln, bei denen oft latente antisemitische Ansichten vorhanden sind, schwer vermittelbar.