Sitzung der AG Politik beim 15. Petersburger Dialog, St. Petersburg, 15. Juli 2016

Die AG-Politik widmete sich insgesamt dem Dachthema des 15. Peterburger Dialogs „Russland und Deutschland angesichts globaler Herausforderungen“.

Zunächst wurde der Bereich Flucht/Migration/Integration wegen seiner aktuellen Bedeutung für die Politik beider Länder vertieft behandelt. Unterschiedliche Problemlagen in Russland und Deutschland wurden deutlich: In Russland dominiert die Zuwanderung aus Staaten der früheren Sowjetunion, v. a. der Ukraine, aber auch dem Kaukasus und Zentralasien; Sprachbeherrschung und Kenntnis russischer Lebensformen sind vorhanden, Ziel der Einwanderer ist mehrheitlich, Arbeitseinkommen zu erzielen und damit ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Diese Zuwanderer wollen meist unter dem Radar der offiziellen Verwaltung bleiben. In Deutschland und der EU dominieren in jüngster Zeit Einwanderer aus arabischen Kulturen, die sich durch unterschiedliche Lebensformen und sprachliche Distanz kennzeichnen; der rechtliche Kanal ist meist ein Asylbegehren. Die offiziell registrierten und von der Verwaltung erfassten Personen finden nur sehr langsam in den Arbeitsmarkt. Die EU-Binnenmigration unterliegt allerdings komplett anderen Regeln; diese stehen nach dem Brexit-Votum und der Positionierung etlicher EU-Staaten erneut in der öffentlichen Debatte.

Die bisher erfolgten Schritte auf europäischer Ebene, und speziell in Deutschland, wurden dargestellt und kritisch debattiert. Das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und den Erfordernissen des Zusammenlebens standen im Mittelpunkt der Debatten. Es muss verstärkt an den Fluchtursachen angesetzt werden; es wurde aber auch konstatiert, dass nicht allein kriegerische Spannungen verursachend sind und unter aktuellen internationalen Bedingungen Migrationsströme unterschiedlicher Motivation voraussichtlich zunehmen werden. Wenigstens die auf Kriege und Bürgerkriege beruhenden Ströme (die auch in vorderster Linie durch Asylverfahren zu schützen sind), können durch gemeinsame Anstrengungen beschränkt werden. Hierzu ist Zusammenarbeit zwischen Russland, der EU, Deutschland und weiteren Akteuren unverzichtbar. Die Aufnahmelager in ihrer gegenwärtigen Verfassung stellen ein enormes Hindernis für das Zusammenleben von Migranten und angestammter Wohnbevölkerung dar. Innereuropäische Kooperation ist dringend erforderlich, kommt aber viel zu langsam in Gang. Die gegenwärtige Situation in der EU ist instabil: Die EU-Innengrenzen sind weitgehend aufgehoben, die Außengrenzen nicht konsequent geschützt. Innerhalb der EU sind die Standpunkte der Staaten bzgl der Aufnahme noch sehr verschieden. Vertragsvereinbarungen mit weiteren Staaten zur Sicherung der Außengrenzen (v. a. Türkei) sind erforderlich, führen aber gleichzeitig zu schwierigen Abwägungen in menschenrechtlicher Sicht.

Die Debatte weitete sich dann auf die Vielzahl gemeinsamer Herausforderungen für Russland und Deutschland. Eingangs wurden die Bedrohungsszenarien in den USA, der EU und Deutschland (aktuelles Weißbuch) sowie Russland verglichen; Eskalation als Folge gestiegener Bedrohungswahrnehmung wurde konstatiert und De-Eskalation im Grundsatz gefordert. Die Vorgänge in der Ukraine ab 2014 wurde als der zentraler Dissens benannt im Verhältnis von Russland zu Deutschland und der EU benannt.

Als konkrete Vorschläge, in welche Richtung konstruktives Bemühen um Lösungen gehen kann, wurde vorgetragen:

  • Alle bestehenden Dialogformate sind aktiv zu nutzen, der Kontakt von Jugendliche sollte aktiv gefördert werden (spezielle Visafreiheit), die Fußball-WM2018 in Russland genutzt werden, um Präventionserfahrungen gegen Gewalt zu vergleichen
  • Die „Wiener Gespräche“ zu Syrien bilden ein nützliches Format, sollten vertieft werden
  • Eine gemeinsame Strategie zur Stabilisierung Libyens liegt im beidseitigen Interesse
  • Gegen internationalen Terrorismus hilft besserer Informationsaustausch, auch der Dienste, hier wurden starke gemeinsame Interessen seitens der russischen Partner artikuliert
  • Ein Mechanismus der Kompatibilität zwischen den Handelsregimen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion kann Spannungen im gemeinsamen Nachbarschaftsgebiet mindern
  • Spannungen im gemeinsamen Nachbarschaftsraum sollten konstruktiv vermindert werden
  • Die Spannungen in der Ukraine sind zentral; Minsk-II bleibt bei allen Unvollkommenheiten der Umsetzung der einzige gemeinsam vereinbarte Handlungsrahmen; hier werden Deutschland und EU zu Einwirkung auf die Ukraine ermuntert, von Russland Einfluss auf Separatisten erwartet
  • Gespräche über Abrüstung und Rüstungskontrolle sollten verstärkt werden
  • Cyberbedrohungen sind eine neue Gefahr, die durch koordinierte Bemühungen zumindest verringert werden kann
  • Die Intensivierung von materiellen Gesprächen im NATO-Russland-Rat wird eingefordert
  • Der NATO-Russland-Rat sollte auf Ministerebene gehoben werden, nicht wie zuletzt auf Botschafterebene zusammenkommen
  • Mehr Abstimmung ist auch bzgl. Iran erforderlich, um das atomare Programm glaubhaft zu kontrollieren
  • Die Politikformulierung  zu neu debattierten Verkehrswegen („neue Seidenstraße“, nördliche Seewege) sollte früh abgestimmt werden.
  • Russland an Gesprächen zur Östlichen Partnerschaft beteiligen /Trilateraler Dialog
  • Debatten über die Zusammenarbeit Energiebereich sind zwischen Russland und EU zu intensivieren
  • Mehr Kooperationen bei Arktis-Fragen, insbesondere Forschungsprojekten, dient beiden Seiten
  • Mittelfristig ist Visa-Freiheit für Jugendliche anzustreben

Diskussionsbeiträge in Stichworten

  1. von deutscher Seite:
  • Beziehungen seien „schlecht“. Auf Grund von Krim-Annexion sei Vertrauen verloren gegangen; man müsse an Idee einer strategischen Partnerschaft festhalten; Deutschland sehe Russland prinzipiell als Partner, fragt sich aber, wie es umgekehrt aussieht?
  • Bedeutung der Charta von Paris und der Unverletzlichkeit von Grenzen unterstrichen; Umsetzung von Minsk II zentral
  • OSZE Beobachter müssen sich frei und sicher in der Ostukraine bewegen können
  • Russische Manöver und Truppenaufstockungen ständen nicht im Verhältnis zu denen der NATO
  • NATO-Russland Grundakte gilt
  • Torpedierung von deutsch-russischen Kooperationsprojekten durch Russland, u. a. wegen Forderungen nach einer Beteiligung von Teilnehmern aus der Krim, sehr bedauerlich
  1. von russischer Seite:
  • NATO-Präsenz an russischen Grenzen sei größte Herausforderung für Russland
  • Dialog sei schwierig, solange führende russische Außenpolitiker mit Sanktionen belegt seien
  • Politik in Deutschland stehe unter anti-russischer Propaganda, was Dialog erschwere
  • Mit Sorge werde Ausbreitung „destruktiver Ideologien in Deutschland“ betrachtet, u. a. faschistische und „christenfeindliche“ Strömungen
  • Man können Minsker Abkommen nicht umsetzen, da Russland keine Partei in der Ostukraine sei („Um Waffenstillstand herbeizuführen, müssten wir erstmal einmarschieren.“)
  • Klarer Zusammenhang zwischen Migration und Terrorismusgefahr in Europa
  • Kritik an „Regime-Change“-Politik des Westens in Libyen. Nun müsse sich Russland Gedanken machen, wie das Land wieder zu stabilisieren sei
  • Völkerrecht wurde nicht durch Russland verletzt, Krim sei keine Annexion gewesen, sondern eine Wiedereingliederung auf Basis des Wunsches der Bevölkerung, die jahrelang unter der Missachtung aus Kiew gelitten habe
  1. Weitere Diskussionspunkte
  • Offene Fragen: Wie sieht Russland die Charta von Paris? Steht es dazu? Will es eine „Neuinterpretation“ (Definition von Interessen, statt Werten) oder eine „Neufassung“ z. B. weniger auf Fragen der liberalen Demokratie als auf eine paneuropäische Sicherheit ausgerichtet. Wenn Russland eine neue europäische Sicherheitsarchitektur wolle, die nicht nur auf NATO und EU beruht, was wären die entsprechenden Vorschläge? Will Russland Teil der europäischen Friedensordnung sein, oder ein Pol in einer multipolaren Welt?
  • Ansehen Deutschlands in Russland und Russlands in Deutschland sinke beständig. Es drohe eine dauerhafte Wahrnehmung als Gegner