Sitzung der AG Kultur beim 4. Petersburger Dialog, Hamburg, 8. – 10. September 2004

„Wie geht es weiter nach den deutsch-russischen Kulturjahren im Hinblick auf das Erinnerungsjahr 2005?“ Unter dem Eindruck der schrecklichen Terroranschläge der jüngsten Zeit haben die Mitglieder der Arbeitsgruppe Kultur einmütig festgestellt, daß der kulturelle Austausch die Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern der Welt nur positiv beeinflussen kann.

Dieser Austausch vermag die notwendigen politischen, polizeilichen und militärischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus nicht zu ersetzen. Es ist aber die feste Überzeugung aller Mitglieder der Arbeitsgruppe, daß der kulturelle Dialog sehr wohl die Lösung politischer und ökonomischer Krisen befördern und dazu beitragen kann, die Entstehung neuer Konflikte zu verhindern.

Die AG Kultur regt in diesem Zusammenhang eine gemeinschaftliche Initiative deutscher und russischer Regierungsstellen mit dem Ziel an, im Rahmen der Vereinten Nationen den Schutz gefährdeter Kulturgüter angesichts veränderter Bedrohungen in den neuen Konfliktlagen der Gegenwart weiter zu verbessern sowie Ressourcen der Kultureinrichtungen beider Länder zur Restaurierung zerstörter oder beschädigter Kulturgüter gemeinsam einzusetzen.

I.
Die Arbeitsgruppe Kultur blickt mit einiger Befriedigung, ja mit einem gewissen Stolz auf die Ergebnisse der deutsch-russischen Kulturbegegnungen der Jahre 2003 und 2004, die im Dezember in Moskau mit einer Abschlußveranstaltung in Anwesenheit der Präsidenten beider Staaten zu Ende gehen. Das umfangreiche Programm ging ganz wesentlich auf Anregungen des Petersburger Dialogs zurück und wurde von staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Akteuren mit großem finanziellen Engagement und bewundernswertem Enthusiasmus unterstützt. Allein von deutscher Seite wurden über zehn Millionen Euro aus öffentlichen und privaten Mitteln aufgebracht. Nur so konnte es gelingen, mit den gemeinsamen Veranstaltungen neben den Metropolen in großem Umfang auch ländliche Regionen zu erreichen. Die zahllosen menschlichen Begegnungen während der Kulturereignisse geben Anlaß zu Optimismus und stimmen hoffnungsvoll für die weitere Vertiefung der Zusammenarbeit, die von beiden Seiten erstrebt wird. Die AG Kultur hält es für einen besonderen Erfolg, die Präsenz russischer Gegenwartsliteratur in der deutschen Öffentlichkeit durch Übersetzungsprogramme gestärkt zu haben. Und sie sieht mit großer Freude, daß es dank des Einsatzes der Bundeskulturstiftung sowie der S. Fischer-Stiftung gelungen ist, ein Projekt zur Übersetzung deutscher Gegenwartsliteratur und deutscher Kinderbücher auf den Weg zu bringen.

II.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Kultur stimmen darin überein, daß die bevorstehenden Veranstaltungen zum Gedenken an das Kriegsende vor sechzig Jahren nicht dazu führen dürfen, überwundene ideologische oder philosophische Differenzen neu zu beleben. Das Gedenkjahr bietet vielmehr Gelegenheit, Versöhnung und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Als Geste und Angebot im Zuge dieses Aussöhnungsprozesses hat Professor Klaus-Dieter Lehmann im Namen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angekündigt, im Jahr 2005 einen originalgetreuen Nachguß des im Krieg zerstörten „Betenden Knaben von Sanssouci“ anfertigen und nach St. Petersburg transportieren zu lassen. Diese Bronzeplastik, ein Geschenk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. an seine Schwester Charlotte von Preußen, die Gattin des Zaren Nikolaus I., hatte seit dem neunzehnten Jahrhundert den sogenannten Zarenpavillon in Peterhof geschmückt, war während der Belagerung Leningrads von deutschen Truppen zerstört worden und soll nun an ihren bis heute verwaisten Platz zurückkehren.

Die AG Kultur begrüßt ausdrücklich das Angebot der Freien und Hansestadt Hamburg, die vom Kapitulationsmuseum Karlshorst erarbeitete Ausstellung zur Blockade Leningrads im Frühjahr 2005 im Hamburger Rathaus zu zeigen, ehe sie in St. Petersburg präsentiert wird. Es wird angeregt zu prüfen, ob sich weitere Ausstellungsstationen in Deutschland und Rußland organisieren lassen.

Die AG Kultur regt dringend an, eine gemeinsame deutsch-russische Historikerkommission einzusetzen, um die Darstellung der Blockade Leningrads während des Zweiten Weltkriegs in den Schulbüchern beider Staaten zu untersuchen und Vorschläge für eventuell gebotene Überarbeitungen zu machen. Sie unterstützt weiterhin das Vorhaben des Staatsarchivs der Russischen Föderation, die Archive der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland wissenschaftlich zu erschließen und eventuell gemeinsam mit dem Kapitulationsmuseum Karlshorst eine Ausstellung über das Leben in der Sowjetischen Besatzungszone in den Jahren 1945 bis 1949 zu konzipieren.

In ausgesprochen offener und sachlicher Atmosphäre hat die AG Kultur auch die schwierigen Fragen der Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter erörtert. Sie plädiert nachdrücklich für eine sachliche, wissenschaftliche Aufarbeitung des Komplexes als Voraussetzung für eine mögliche Lösung des Problems. Sie erzielte Einigkeit darüber, daß es für die beiderseits als wünschenswert erachtete wissenschaftliche Bearbeitung von entscheidender Bedeutung ist, den Zugang zu den Archiven zu öffnen oder mindestens zu erleichtern, in denen die Unterlagen über den Verbleib der Kulturgegenstände verwahrt werden. Sie ist sich auch einig darüber, daß diese Akten nur ausnahmsweise von fortdauernder militärischer Bedeutung sind. Und sie stellt fest, daß es wünschenswert ist, den derzeit von russischen Stellen sehr unterschiedlich gehandhabten Zugang zu Depots und Magazinen zu erleichtern, in denen die Kulturgüter verwahrt werden. Die deutsche Seite erkennt in diesem Zusammenhang die Schwierigkeiten russischer Wissenschaftler an, ihre Recherchen in deutschen Archiven zu finanzieren und schlägt daher die Errichtung eines Fonds vor, aus dem in Einzelfällen Reisehilfen gewährt werden können.

Die AG Kultur regt weiter an, Initiativen zu entwickeln, um die Durchführung von Jugendreisen nach Rußland organisatorisch und finanziell zu unterstützen, und schlägt vor, bei deutschen Tourismusveranstaltern dafür zu werben, in den Programmen ihrer Rußlandreisen auch ausreichend Zeit für Besuche von Museen, Gedenkstätten und Friedhöfen vorzusehen, an denen die Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs gepflegt wird.

Die AG Kultur unterstützt nachdrücklich das gemeinsame Projekt „Rußlands Gedächtnis“ russischer und deutscher Initiativen, das russischen Schülern und Studenten die Möglichkeit geben soll, Menschen ihres persönlichen Umfeldes nach deren Kriegserinnerungen zu befragen und darüber eventuell kürzere Dokumentarfilme zu drehen. Als mögliche Finanzquelle für dieses Unternehmen könnte ein erst jüngst eingerichteter Fonds für Jugendarbeit der „Stiftung Erinnerung, Vergangenheit, Zukunft“ dienen.

III.
Die Arbeitsgruppe Kultur begrüßt einmütig die Absicht, das bevorstehende siebenhundertfünfzigste Jubiläum der Stadt Kaliningrad – Königsberg zum Anlaß für eine gemeinsame Ausstellung deutscher und russischer Institutionen über Kaliningrad – Königsberg als Brennpunkt europäischer Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu nehmen.

Die Mitglieder der AG Kultur nehmen mit Bedauern und Irritation zur Kenntnis, daß sich die ehedem gute Situation bei der Erteilung von Visa für Reisen von und nach Kaliningrad momentan wieder verschlechtert hat. Sie haben ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben, die unlängst erfolgte Eröffnung eines deutschen Generalkonsulats in Kaliningrad, das derzeit allerdings noch nicht operativ tätig ist, werde die Reisemöglichkeiten kurzfristig und andauernd verbessern.

Mit Interesse hat die AG Kultur zwei Projekte der Hamburger Zeit-Stiftung zur Kenntnis genommen, die den Aufbau einer Graphiksammlung Lovis Corinths in Kaliningrad sowie die Ausstellung der sogenannten Prussia-Sammlung ermöglichen wird. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe haben in diesem Zusammenhang betont, wie eminent wichtig und hilfreich das Engagement privater Stiftungen ist, da sich die Kooperation auf staatlicher Ebene immer wieder als schwierig erweist.

IV.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Kultur stimmen darin überein, daß die Osterweiterung der Europäischen Union derzeit keine negativen Auswirkungen auf die Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Rußland hat. Sie halten es aber für geraten, bei der weiteren Vertiefung der Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten sicherzustellen, daß der fortschreitende Integrationsprozeß sich nicht zu einem faktischen Hindernis für die kulturellen Außenbeziehungen entwickelt. Sie kommen darin überein, diesen Prozeß aufmerksam beobachten und etwaigen Fehlentwicklungen gemeinsam entgegenwirken zu wollen. Die russischen Vertreter erklären es für wünschenswert, die Kulturgesetzgebung der EU-Mitgliedstaaten weiter zu harmonisieren. Sie weisen zudem auf die teils unterschiedliche Handhabung der Visa-Erteilung hin, die sich bisweilen nachteilig auf Kulturkontakte auswirken könne.

V.
Die AG Kultur hat sich darauf verständigt, eine Vielzahl neuer Initiativen und Projekte anzuregen und zu fördern.

Sie erklärt ihre Absicht, den Dialog über deutsche und russische Positionen der zeitgenössischen Architektur zu unterstützen und schlägt dafür zunächst die Durchführung eines Symposions vor, das gemeinsam von deutschen und russischen Fachverbänden organisiert werden könnte.

Sie will bei öffentlichen und privaten Geldgebern um finanzielle Hilfe für das Vorhaben werben, junge deutsche Filme in Rußland vorführen zu lassen.

Sie unterstützt das Projekt der Eremitage und der Stiftung Schlösser und Gärten, eine gemeinsame Ausstellung über die „goldene Zeit“ der russisch-preußischen Beziehungen zwischen 1800 und 1850 zu erarbeiten. Und sie begrüßt die Absicht, die kulturellen Beziehungen zwischen Norddeutschland und dem Nordwesten Rußlands im frühen Mittelalter näher zu erforschen und gegebenenfalls in einer Ausstellung zu dokumentieren.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe haben schließlich mit großem Interesse den Vorschlag zur Kenntnis genommen, die beiden in Moskau (in der Russischen Staatsbibliothek und der Bibliothek der Moskauer Staatlichen Universität) lagernden, aus Leipzig stammenden Gutenberg-Bibeln mit technischer und finanzieller Hilfe deutscher Stellen von russischen und deutschen Buchwissenschaftlern gemeinsam digitalisieren zu lassen und der Öffentlichkeit mittels einer CD-Rom zugänglich zu machen, deren Verkaufserlös zwischen den beteiligten Stellen beider Seiten aufgeteilt werden könnte.

Die Co-Vorsitzenden

Protokoll
Klaus-Dieter Lehmann, Heinrich Wefing
Georgi Wilinbachow