Sitzung der AG Kirchen in Europa beim 18. Petersburger Dialog, Bonn/Königswinter, 19. Juli 2019

Bei ihrer Sitzung im Rahmen der diesjährigen Plenarveranstaltung befasste sich die Arbeitsgruppe mit dem Thema „Der Dienst der Kirchen in Deutschland und Russland im Bereich der Krankenhausseelsorge“.

Im Anschluss an die letzte Fachtagung der Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ des Petersburger Dialogs vom 3.-5. Juni 2019 in Moskau, welche sich mit der Militär-, Polizei- und Gefängnisseelsorge in Deutschland und in Russland befasst hatte, war die Sitzung der Arbeitsgruppe im Rahmen des 18. Petersburger Dialogs der Krankenhausseelsorge gewidmet. Bei seiner Einführung in dieses Thema wies der deutsche Koordinator der Arbeitsgruppe, Dr. Johannes Oeldemann, Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Pader­born, darauf hin, dass sich die Arbeitsgruppe traditionell mit Themen an den Schnittstellen von Kirche und Gesellschaft befasse. Die Krankenhausseelsorge nehme hierbei eine ganz besondere Stellung ein, sei doch der Besuch der Kranken und Gefangenen von Jesus im Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25,36 ausdrücklich als Kennzeichen derer genannt worden, welche einst das Reich Gottes empfangen würden. Als Zeichen für die Bedeutung dieses Dienstes der Kirche spreche man in der orthodoxen Theologie seit den 70er Jahren auch von der „Liturgie nach der Liturgie“. Anders als in Deutschland sei jedoch in Russland Krankenhausseelsorge erst wieder seit der Wiedererlangung der Freiheit der Kirche Anfang der 90er Jahre möglich geworden.

In ihrem gemeinsam gehaltenen Referat schilderten Pater Prof. Dr. Franziskus Knoll OP von der Theologischen Fakultät der Hochschule Vallendar und Pastor Michael Brems, Leiter der Koordinierungsstelle für Krankenhausseelsorge in der Nordkirche und Mitglied des Vorstandes der Konferenz für Krankenhausseelsorge in der EKD, die biblischen Grundlagen, die rechtlichen Voraussetzungen, die Methoden und Aufgaben sowie die Entwicklung und die künftigen Herausforderungen der Krankenhausseelsorge. Krankenhausseelsorge sei Zuwendung zum Menschen, Beziehungsarbeit und professionelle Begleitung der Patienten, deren Angehörigen, aber auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern, und zwar unabhängig davon, ob diese Mitglied einer christlichen Kirche sind oder nicht. In Deutschland seien in rund 2.000 Krankenhäusern rund 2.400 Seelsorgerinnen und Seelsorger im Auftrag der Kirchen tätig, die neben der konkreten seelsorgerlichen Arbeit teilweise auch  Fortbildungen für das Krankenhauspersonal anbieten. Manche Krankenhäuser refinanzieren zumindest einen Teil der Personalkosten der Seelsorge, und fast alle verfügen über eine Kapelle oder einen Meditationsraum. Rund ein Drittel der Krankenhäuser sei darüber hinaus in freier, gemeinnütziger Trägerschaft, wobei christliche Träger (Caritas, Diakonie) hierbei den größten Anteil ausmachen. Auf evangelischer Seite werde der Dienst in den Krankenhäusern überwiegend von ordinierten Pastorinnen und Pastoren wahrgenommen, auf katholischer Seite von Pastoral- und Gemeindereferentinnen und -referenten, aber auch von Priestern. Rechtlich sei die Krankenhausseelsorge durch Art. 4 und 140 GG in Verbindung mit Art. 141 der Weimarer Reichsverfassung sowie durch staatkirchenrechtliche Verträge auf Länderebene abgesichert. Die biblisch-theologischen Grundlagen der Krankenhausseelsorge machen deutlich, dass im Alten Testament Krankheit überwiegend als Strafe Gottes verstanden wird, welche den Menschen in Anfechtung und Klage stürzt, während im Neuen Testament Heilung als Zuwendung Jesu zu den auf ihn hoffenden und vertrauenden Menschen gedeutet wird und als ein Zeichen des Anbruchs des Reiches Gottes gilt.

In Deutschland habe sich die pastorale Krankenseelsorge durch die Seelsorgebewegung seit den 60er Jahren zu einer partnerschaftlichen, auf Augenhöhe stattfindenden Seelsorge im Krankenhaus entwickelt. Dieser konfessionsübergreifende Paradigmenwechsel im Seelsorgeverständnis ging mit einer Modernisierung und Professionalisierung der Krankenhausseelsorge einher und führte zur Entstehung der Pastoralpsychologie als eigenständige theologische Disziplin und zur Etablierung der Klinischen Seelsorgeausbildung auch in Deutschland. Heute steht die katholische und evangelische Krankenhausseelsorge vor der Aufgabe, sich zu der sehr viel umfassenderen Spiritual-Care-Bewegung zu positionieren, welche sich eher auf die philosophische Anthropologie und den sehr viel weiter gefassten Begriff des „mental and spiritual well-being“ der Definition von Gesundheit in der Bangkok-Charta der WHO (2005) bezieht.

Diese Ausführungen der beiden Referenten wurden in ihrem Vortrag durch zwei eindrückliche Fallbeispiele aus der seelsorgerlichen Praxis ergänzt, welche anhand schwerster Krisensituationen im Krankenhausalltag die gesamte Bandbreite seelsorgerlichen Handelns deutlich machten: In dem einen Fall ging es um die von den Eltern gewünschte Nottaufe eines Frühchens, das keine Überlebenschancen hatte, und in dem anderen Fall um die langjährige seelsorgerliche Begleitung eines aufgrund eines Badeunfalls plötzlich querschnittgelähmten Jugendlichen, angefangen von einem schlichten Mitaushalten der Untröstlichkeit der Situation am Krankenbett bis hin zur allmählichen Reintegration des Patienten in den Alltag. Im Hinblick auf die Zukunft der Krankenhausseelsorge in Deutschland wurde von den Referenten auf die Problematik abnehmender personeller aber auch finanzieller Ressourcen hingewiesen. Weitere Herausforderungen für die Zukunft seien die kontinuierliche Weiterbildung der Seelsorgerinnen und Seelsorger in wissenschaftlich-psychologischen Arbeitsmethoden sowie die Notwendigkeit einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit der muslimischen Krankenhausseelsorge, was jedoch aufgrund der auf muslimischer Seite fehlenden übergeordneten Organisationsstruktur und des fehlenden hauptberuflichen Seelsorgepersonals nicht einfach sei.

Im Anschluss daran referierte Olga J. Jegerowa, Leiterin des Zentrums für palliative Hilfe der St. Dimitri-Schwesternschaft in Moskau, über die Situation und Struktur der Krankenhausseelsorge in Russland. Eingangs machte sie anhand der niedrigen Anzahl Krankenhauskapellen auf die im Vergleich zu Deutschland sehr viel schwierigere Situation der kirchlichen Präsenz in den Krankenhäusern aufmerksam: Nur rund 300 der über 5.300 Krankenhäuser in Russland verfügten bislang über eine Kapelle oder einen für Gottesdienste benutzbaren Raum. An dem Krankenhaus, an dem sie selbst tätig sei, dem auf Infektions­krankheiten spezialisierten Krankenhaus Nr. 2 in Moskau mit ca. 900 Betten, existiere jedoch seit 2016 eine eigene orthodoxe Kapelle, in welcher zweimal in der Woche eine Göttliche Liturgie gefeiert wird und Totenandachten gehalten werden. Neben diesem genuin priesterlichen Dienst, der von den lokalen Gemeindepriestern mit übernommen wird, werde die eigentliche Krankenhausseelsorge in Russland überwiegend von orthodoxen „Schwestern der Barmherzigkeit“ geleistet. Rechtliche Grundlage dieser Tätigkeit sei eine Vereinbarung zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und dem russischen Gesundheitsministerium von 1993 sowie das Statut der ROK über Bruderschaften und Schwesternschaften. Die Barmherzigkeitsschwestern sind jedoch nicht bei den Krankenhäusern angestellt, sondern finanzieren ihre Arbeit überwiegend aus Mitteln der ROK sowie durch Spenden von Privatpersonen. Dort, wo sie jedoch medizinische Leistungen im engeren Sinn erbringen, wird diese Arbeit aus den Mitteln der staatlichen Krankenversicherung refinanziert.

Am Moskauer Krankenhaus für Infektionskrankheiten Nr. 2 ist die 1991 gegründete St. Dimitrij-Schwesternschaft seelsorgerlich tätig. Der Versuch der Schwestern, ähnlich wie die evangelischen Diakonissen diesen caritativen Dienst in den Krankenhäusern mit einem kommunitären Leben zu verbinden, musste jedoch wieder aufgegeben werden, da viele der Schwestern verheiratet sind und eine Familie haben. Die St. Dimitrij-Schwesternschaft umfasst derzeit in ganz Russland ca. 200 verheiratete und unverheiratete Frauen, die teilweise auch über eine pflegerische oder medizinische Ausbildung verfügen. In den Krankenhäusern übernehmen sie in erster Linie jedoch jene Aufgaben, für die kein eigenes Personal zur Verfügung steht, d.h. einerseits soziale Dienste, wie die Besorgung von amtlichen Papieren, von Unterkunftsmöglichkeiten oder Rehabilitationsmaßnahmen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus und einfache Pflegeaufgaben, wie das Füttern oder Waschen der Patienten. Je nach ihren Kenntnissen und Fähigkeiten können ihnen auch durch die Krankenhausleitung medizinische Tätigkeiten im engeren Sinn übertragen werden. Ihre eigentliche Aufgabe sehen die Barmherzigkeitsschwestern jedoch nicht in dieser äußerlich-praktischen, sondern in der geistlich-spirituellen Hilfe. Durch eine spezielle Tracht sind sie sofort als orthodoxe Schwestern erkennbar. Während die Klinik für Infektionskrankheiten Nr. 2 auf die Behandlung von HIV-Patienten spezialisiert ist, sind die St. Dimitrij-Schwestern andernorts auch in der allgemeinmedizinischen Behandlung, im geriatrischen und palliativen Bereich oder auch in Entzugskliniken tätig. In der 1992 gegründeten staatlich finanzierten St. Dimitrij-Schule der Schwestern der Barmherzigkeit wurden bisher rund 1.800 Personen für den caritativen Dienst in Krankenhäusern, in Pflegeheimen und in der häuslichen Krankenpflege ausgebildet.

Jelena B. Lebedewa, Lehrkraft der St. Dimitrij-Schwesternschaft und Patronatsschwester am St. Alexij-Krankenhaus in Moskau, dem größten Orthodoxen Krankenhaus in Russland mit rund 200 Betten, berichtete über die Arbeit an den vergleichsweise wenigen kirchlichen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Neben dem St. Alexij-Krankenhaus in Moskau und dem St. Xenia-Krankenhaus in St. Petersburg gibt es noch sechs weitere kirchliche Krankenhäuser, rund 60 kirchliche geriatrische Pflegeeinrichtungen und einige Kinderheime. Träger dieser Einrichtungen sind die Eparchien oder einzelne Klöster und Gemeinden. Finanziert werden diese Einrichtungen durch das Patriarchat, die jeweiligen Träger vor Ort, durch Spenden sowie bei Erbringung von Leistungen für Krankenversicherte auch durch das staatliche Versicherungssystem. Die in diesen Einrichtungen tätigen Barmherzigkeits­schwestern werden bei ihrer Arbeit durch eine große Anzahl von ehrenamtlich Tätigen unterstützt, die seit 2018 am St. Alexij-Krankenhaus in Moskau hierfür geschult werden. Daneben gibt es ebenfalls seit 2018 spezielle Kurse für Priester und Diakone, die neben ihrem Dienst in den Gemeinden auch in Krankenhäusern und anderen caritativen Einrichtungen tätig sind.

An der Sitzung der Arbeitsgruppe nahm kurzzeitig als Gast auch der Abgeordnete der russischen Staatsduma, Jaroslaw J. Nilow, teil. Er ist Vorsitzender des Komitees der Staatsduma für Arbeit, Sozialpolitik und Angelegenheiten der Veteranen. In seinem Grußwort unterstrich er aus staatlicher Sicht die große Bedeutung des sozialen und caritativen Engagements der Orthodoxen Kirche in Russland.

In der sich an die Referate anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass zwar die Grundlage der kirchlichen Arbeit in der Krankenhausseelsorge in Russland und Deutschland dieselbe ist, dass aber die konkrete Situation und die damit verbundenen Herausforderungen sehr unterschiedlich sind. Während in Russland die Barmherzigkeitsschwestern Pionierarbeit leisten und zum Teil Aufgaben übernehmen, für die in Deutschland der Sozialdienst der Krankenhäuser und das fest angestellte Pflegepersonal zuständig wären, können sich in Deutschland die Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger auf ihre pastoralpsycholo­gischen Kernaufgaben konzentrieren. Während in Deutschland die Krankenhausseelsorge durch bei den Kirchen fest angestellte, speziell für die Seelsorge ausgebildete Theologinnen und Theologen wahrgenommen wird, sind in Russland Pfarrer und Bischöfe lediglich für den liturgischen und sakramentalen Dienst im engeren Sinn zuständig sowie zum Teil auch für die Aufsicht über die in Krankenhäusern und Heimen geleistete caritative Arbeit. Zwar werden auch orthodoxe Seminaristen im Rahmen ihrer Ausbildung zu Priestern für einige Wochen in Krankenhäuser geschickt, doch hauptberuflich in Krankenhäusern tätige Pfarrer gibt es in Russland nicht.

Die christliche Seelsorge am Patienten wird somit in Russland bislang überwiegend von den Barmherzigkeitsschwestern geleistet. In vielerlei Hinsicht gleicht deren Tätigkeit derjenigen der Diakonissen in Deutschland, die ebenfalls schon allein durch ihre Tracht das christliche Profil ihrer Tätigkeit erkennen lassen. Teilweise haben evangelische Diakonissen auch in den ersten Jahren der wiedererlangten Freiheit nach 1990 an der Ausbildung von Barmherzigkeitsschwestern in Russland mitgewirkt. In der Person der heiliggesprochenen Großherzogin Elisabeth Fjodorowna aus dem Hause.

Hessen-Darmstadt, der Schwester der letzten Zarin, sind diese beiden Bewegungen auch unmittelbar miteinander verknüpft. Nach der Ermordung ihres Mannes gründete Elisabeth Fjodorowna 1909 in Moskau das Martha-und-Maria-Kloster der Barmherzigkeit und schuf nach dem Vorbild der deutschen Diakonissen in Russland eine Schwesternschaft, welche Gebet und Sozialarbeit miteinander verband und vornehmlich in der Krankenpflege und der Armenfürsorge tätig war.

Trotz der unterschiedlichen Struktur und Organisation der Krankenhausseelsorge in Deutschland und in Russland sind zweifellos die jeweils in unseren beiden Ländern in diesem Bereich Tätigen miteinander in ihrem Bemühen vereint, für die leidenden und kranken Menschen auch unter schwierigsten Bedingungen da zu sein, Licht in die Dunkelheit zu bringen und ein Zeugnis des christlichen Glaubens zu geben.

 

PD Dr. Reinhard Flogaus, Berlin