Gemeinsame Sitzung der AG Zivilgesellschaft und der AG Zukunftswerkstatt beim 18. Petersburger Dialog, Bonn/Königswinter, 18.-20. Juli 2019

Noch vor der offiziellen Eröffnung des Forums „Petersburger Dialog“ traf sich die Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ am 18. Juli zur bereits traditionellen „Nullten Stunde“, die sich mit der aktuellen Entwicklung der Zivilgesellschaften in Russland und Deutschland befasste. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erörterten den von der Arbeitsgruppe vorgelegten Text des Memorandums über die Möglichkeiten einer Visaliberalisierung zwischen der Russischen Föderation und der BRD. Die bilaterale Arbeitsgruppe war im Vorfeld nach Abschluss des am 23. Mai in Moskau durchgeführten Runden Tisches zu diesem Thema ins Leben gerufen worden.

Während der Diskussionen wurden viele interessante Vorschläge zur Vereinfachung des Reiseverkehrs zwischen Russland und Deutschland unterbreitet. Marija Ruzhitskaya schlug vor, über die Abschaffung der Migrationserfassung nachzudenken bzw. die Gültigkeitsdauer von Studentenvisa auf über 90 Tage zu verlängern. Olga Kirillowa wies darauf hin, dass die Vergabe elektronischer Visa in Russland bereits in Kaliningrad und Wladiwostok funktioniere. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkannten als positiv an, dass für die Einreise ausländischer Staatsangehöriger in die Russische Föderation ab dem 1. Januar 2021 ein einheitliches elektronisches Visum eingeführt werden soll, wie es der Präsidialbeschluss vom 17. Juni 2019 vorsieht. Es wurde die innovative Idee vorgetragen, die veraltete Anmeldung unter Verwendung der Blockchain-Technologie abzuschaffen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben den Text des Memorandums verabschiedet und beschlossen, diesen an die russische und die deutsche Regierung weiterzuleiten.

Markus Meckel trug die Idee vor, die AG Zivilgesellschaft möge aus Anlass des 80. Jahrestags des Hitler-Stalin-Pakts am 24. August 2019 eine kurze gemeinsame Erklärung verabschieden. Die Diskussion dieses Vorschlags wurde auf den nächsten Tag auf den Tagesordnungspunkt „Aktuelles“ verschoben.

Am 19. Juli fand im Rahmen der eigentlichen Tagung des Petersburger Dialogs eine gemeinsame Sitzung der Arbeitsgruppen „Zivilgesellschaft“ und „Zukunftswerkstatt“ zum Thema „Vorhang auf für die Zukunft: Kulturschaffende, Frauen und ihr Blick auf die Zivilgesellschaft“ statt. Jelena Schulman, Mitglied des Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und für Menschenrechte, und Ulla Schmidt, Bundesministerin a.D., MdB, trugen im Rahmen einer dem Thema „Die Rolle der Frau in der Zivilgesellschaft: deutsch-russischer Erfahrungsaustausch über Zukunftsfragen unter den Bedingungen der Gleichberechtigung“ gewidmeten Sitzung vor.

Besonderes Interesse riefen die Beiträge der bekannten deutschen bzw. russischen Regisseure Georg Genoux und Aleksandr Sokurow zum Thema „Die Rolle der Kultur bei der Gestaltung einer besseren Zukunft für DEU und RUS“ hervor. In seinem Bericht über gemeinsame russisch-deutsch-ukrainisch-polnische Theaterprojekte äußerte sich Georg Genoux zur Frage der Finanzierung von Kunstprojekten. Seiner Meinung nach sei das Internet das demokratischste Mittel hierfür, das hervorragende Möglichkeiten für die Suche nach finanziellen Mitteln biete. Dabei unterstrich er: „Das Theater darf nicht zu einem Propagandamittel werden!“.

Aleksandr Sokurow erinnerte an die ausgezeichneten Erfahrungen in der Zusammenarbeit deutscher und russischer Filmschaffender: der Film „Russian Ark“ wurde dank der Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Produzenten aus Deutschland in nur einer Einstellung gedreht. Mit Bedauern stellte er fest, dass die Gegenwart sich dadurch auszeichne, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur der Wertekanon verloren gegangen sei. Seiner Meinung nach zwinge das moderne Kino den Menschen auf unzulässige Art und Weise, sich an Gewalt zu gewöhnen. Aufrufe an die Organisatoren von Filmfestspielen, so Sokurow, das Zeigen von Gewalt auf der Leinwand zu beschränken, verhallen wie die Stimme des Rufers in der Wüste. Gewalt werde wie eine Ware vermarktet. Ungeachtet der Tatsache, dass sich in der Alten Welt große kulturelle Traditionen herausgebildet haben, weigere sich die europäische Zivilisation dennoch, die Gewalt von der Leinwand zu verbannen. Die Romantisierung des Kriegs schreite fort und die Kinoindustrie mache damit Geld. „Erlauben Sie Drogen und Gewalt, hören Sie auf, für die Menschlichkeit zu kämpfen – und Sie werden Ihre Zivilisation verlieren“, mahnte der russische Regisseur.

Die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer teilten Sokurows Besorgnis. Jelena Hoffmann von der Stiftung „West-Östliche Begegnungen“ räumte ein, dass Filme in der modernen Gesellschaft zu einer Ware geworden und Bildung und Erziehung im Filmwesen keine Ziele mehr seien. Die Vorsitzende des Sankt-Petersburger Menschenrechtsrates Natalja Jewdokimowa schloss sich dem an und bemerkte, in der Gesellschaft habe sich ein riesiges Potential an Gewalt angesammelt, deren Propagierung oft von den Behörden geduldet werde. Alina Jaschina von der unabhängigen gemeinnützigen Organisation „Platforma NTI“ unterstrich, die Gesellschaft brauche Vermittler für eine Kultur der Gewaltlosigkeit.

Auf der Abschlusssitzung der gemeinsamen Sitzung der Arbeitsgruppen fand ein deutsch-russischer demoSlam statt. Der Ekaterinburger Ingenieur Wiktor Plechanow und der Münchner Journalist Björn-Hendrik Otte stellten Beiträge zum Thema „Wie sehe ich meine Zukunft? Wünsche, Ängste und unser Beitrag“ vor. Die Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmer unterstrichen im Besonderen, wie wichtig es sei, Kanäle der Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Jugendlichen aufzubauen, da es ohne solche Kanäle zu einer Konzentration von Spannungen käme und dies die Gefahr einer sozialen Explosion in sich berge. In der sich anschließenden Diskussion waren u.a. Mitgestaltungsmöglichkeiten in Deutschland und Russland Thema. Auch die jüngsten Demonstrationen in Jekaterinburg, Proteste gegen Müllkippen in verschiedenen Regionen Russlands sowie die Verhaftung des Journalisten Iwan Golunow wurden von den Teilnehmenden angesprochen.

Der letzte Tagesordungspunkt der AG „Zivilgesellschaft“ – Aktuelle Fragen und Arbeitsprogramm – fand dann ohne die AG Zukunftswerkstatt statt. Die Leiterin des Zentrums „Perspektive Russland“ Anne Hofinga stellte den Bericht des Sozialforums über den Internationalen wissenschaftlich-praktischen Kongress „Kinder in seelischer Not. Traumapädagogik. Psychische Traumatisierungen im Kinder- und Jugendalter und ihre Folgen. Aufgaben der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft bei Prophylaxe und Rehabilitation“ vor, der vom 15.-17. November 2018 in Moskau stattfand. Des Weiteren informierte sie die Arbeitsgruppe über den Stand der Vorbereitung der für November 2019 geplanten Inklusiven deutsch-russischen Tagung „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“.

In Zusammenhang mit der Besorgnis der Teilnehmenden in Bezug auf die große Zahl von Verhaftungen in Inguschetien (nach Protesten gegen ein Grenzabkommen mit Tschetschenien), den fortdauernden Hausarrest von Anastassjia Schewtschenko sowie die seit 2014 andauernde Inhaftierung von Oleh Senzow informierte Michail Fedotow die Arbeitsgruppe darüber, dass der Menschenrechtsrat mehrfach offizielle Anfragen an die Regierungsbehörden gestellt habe. Der Vorsitzende des Menschenrechtsrates referierte anschließend die Einschätzung, dass das Format des Runden Tischs mit der Erarbeitung des Visamemorandums seine Qualität bewiesen habe und regte Fortsetzung an. Für einen nächsten Runden Tisch kristallisierte sich in der Diskussion unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Thema „Gewalt“ heraus. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ sprachen sich für die Durchführung von Runden Tischen zu folgenden Themen aus: 1) Verhaltensmuster in der Kunst, 2) Jugendaustauschprogramme, u.a. im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps sowie gemeinsam mit Frankreich, 3) Kunstökonomie und 4) Erfahrungsaustausch zu den gesellschaftlichen Beobachtungskommissionen.

Im Verlauf der Diskussion über die Verabschiedung einer kurzen gemeinsamen Erklärung durch die AG „Zivilgesellschaft“ aus Anlass des 80. Jahrestags des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 plädierte Michail Fedotow dafür, die historische Arbeit den Historikerinnen und Historikern zu überlassen, etwa in Form einer Sommerschule. Andere sprachen sich für sorgfältige Vorbereitung einer solchen Erklärung aus. Dirk Wiese stellte schließlich Konsens für den Kompromissvorschlag her, dem zufolge eine sechsköpfige paritätisch besetzte Gruppe bis spätestens 22.08.2019 erarbeiten solle, ob und mit welchem Textlaut eine solche Erklärung veröffentlicht werden könne.