Digitale Studientagung der AG „Kirchen in Europa“ am 24. Februar 2021
Nach gut anderthalbjähriger (coronabedingter) Pause traf sich am 24. Februar 2021 die Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ des Petersburger Dialogs wieder zu einer Studientagung zum Thema „Die Corona-Pandemie und ihr Einfluss auf die Kirchen in Deutschland und Russland: Herausforderungen und Konsequenzen.“
Die Tagung fand digital statt und wurde von den beiden langjährigen Koordinatoren, Archimandrit Filaret (Bulekow) und Dr. Johannes Oeldemann, eröffnet. Archimandrit Filaret sprach die große Herausforderung der COVID-19-Pandemie an, die nicht nur eine medizinische und politische Antwort fordert, sondern auch christliche Deutungen. Neben den zahlreichen notwendigen Schutzmaßnahmen stellt sich auch die Frage, wie der Glauben schützen kann. Johannes Oeldemann erinnerte in seiner Begrüßung an die vielen verstorbenen Geistlichen in der katholischen und orthodoxen Kirche und lenkte die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Herausforderungen, vor denen die Kirchen stehen, sowohl bei Fragen der Durchführung von Gottesdiensten als auch bei Diakonie, Pastoral, Schulunterricht und Seelsorge. Viele Probleme wurden durch die Pandemie nicht geschaffen, sondern kommen nun besonders zum Vorschein.
Den Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Christoph Jacobs von der Theologischen Fakultät Paderborn. Unter dem Titel „Der Mensch in der Krise ist Gottes Anliegen“ stellte er zunächst die verschiedenen Ebenen der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Folgen der Pandemie dar. Religionen haben in dieser Situation eine ambivalente Rolle, da der Glaube einerseits schützen, andererseits aber auch für Verschwörungstheorien empfänglich machen kann. Die Herausforderungen für die Kirchen sieht er in einer Neuorientierung der theologischen Modelle und der pastoralen Praxis hin zu einer stärkeren Konzentration auf den Menschen, wie es auch der biblischen Botschaft entspricht. Ein stärkerer Bezug zwischen Liturgie und Diakonie mit dem Schwerpunkt der „aufsuchenden Pastoral“ seien auch eine Zukunftschance für die Kirchen. In der Diskussion wurden die praktischen Grenzen der direkten Zuwendung zum Menschen durch die Pandemie-Sicherheitsmaßnahmen sowie die Gefahren der verstärkten Digitalisierung angesprochen. Die Soziologin Jelizaweta Rodionowa von der St. Petersburger Staatlichen Universität ergänzte, dass aus Sicht der Soziologie die Gefahr einer Verdrängung persönlicher Teilnahme an Liturgie durch digitale Formate nicht nachzuweisen wäre, allerdings seien viele kirchliche Aktivitäten während der Pandemie in den Medien kaum wahrnehmbar gewesen.
Im zweiten Vortrag beschrieb Erzpriester Ioann Kudrjawzew die Arbeit der Kommission für Krankenhausseelsorge der Moskauer Diözese. Neben der Arbeit mit Patient*innen und Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser machen die Priester auch Hausbesuche und betreiben eine Telefonseelsorge. Er erläuterte die praktischen Schwierigkeiten von Krankenhausseelsorgern unter den Pandemie-Bedingungen, die von generellen strukturellen Problemen, etwa einer komplizierten Zugänglichkeit der Krankenhäuser, Unkenntnis der Arbeit von Krankenhausseelsorgern unter den Angestellten und fehlenden Lizenzen, begleitet werden. Die Pandemie hat in dieser Hinsicht den Ausbau dieser Strukturen, die Verbesserung der Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen und die Anerkennung des Dienstes der Seelsorger bewirkt. Auch die Bedeutung von Laien als Begleiter*innen der Arbeit der Priester ist ähnlich der frühkirchlichen Diakonissen in das Bewusstsein gerückt. Ein Problem ist die geringe Zahl der Priester, die diesen Dienst zusätzlich zu ihrer Gemeindearbeit leisten können, dies gilt noch einmal mehr für die Regionen.
Stefan Kube, Chefredakteur der Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“ und Leiter des Schweizer Instituts G2W (Zürich), stellte in seinem Vortrag die mediale Resonanz auf den kirchlichen Umgang mit der Pandemie dar. Die verschiedenen Ebenen von Kirchenleitung, Gemeindepraxis und akademischer Theologie hatten jeweils mit eigenen Herausforderungen umzugehen. Zentrales Thema für alle Ebenen war und ist jedoch der Vorwurf der kirchlichen Sprachlosigkeit in der öffentlichen Debatte und die Frage nach den theologischen Prinzipien hinter den neuen Formen pastoraler Arbeit. Kube stellte die Ergebnisse von zwei Studien – der EKD und des Verbundprojekts CONTOC – vor, die beide jeweils den Digitalisierungsschub der Kirchen beschreiben, allerdings auch die theologischen Fragen aufzeigen, die sich durch die Pandemie stellen, etwa nach dem Kirchenbild, das auf den Priester zentrierte digitale Gottesdienste vermitteln, oder nach der theologischen Deutung der Pandemie als Strafe.
Der abschließende Vortrag von Pawel Lebedew, Leiter der Abteilung für die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriachats, berichtete über die Strukturen kirchlicher Kooperation mit dem Staat im Kontext der Pandemie. Er blickte zurück auf die Umsetzung der Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung in den Kirchen und kirchlichen Einrichtungen. Staat und Kirche arbeiten in vielen Bereichen eng zusammen, indem der Staat die kirchlichen Strukturen der diakonischen Arbeit und die Freiwilligen materiell unterstützt. Besondere Bereiche der Zusammenarbeit sind die Obdachlosenhilfe, Hilfe für sozial schwache Familien und die Krankenhausseelsorge. Die Zusammenarbeit hat sich für die Kirchen als neuer Impuls für die Professionalisierung der Sozialarbeit gezeigt und im Staat-Kirche-Verhältnis die notwendigen Unterstützungen deutlich gemacht.
In der anschließenden Diskussion stand vor allem die Frage im Mittelpunkt, welche konkreten Schritte die Kirchen gehen wollen und müssen, um nach der langen Zeit physischer Distanz den persönlichen Kontakt mit den Menschen wieder aufleben zu lassen. Weiterhin wurde das Problem der Verschwörungstheorien im kirchlichen Raum angesprochen und auf die Herausforderung verwiesen, Kritik und angemessene Sorgen von destruktiven Ideen zu unterscheiden und ernst zu nehmen. Angestrebt werden ein Austausch über Formen und Strukturen der Krankenhausseelsorge sowie ein gegenseitiges Lernen im Bereich der Online-Pastoral. Alle Teilnehmenden waren der Überzeugung, dass die Pandemie mit all ihren existenziellen Herausforderungen für die Kirchen in Deutschland und Russland auch eine große Chance bietet, ihre Botschaft und ihre Kommunikationswege mit den Menschen neu zu entdecken und zu gestalten.
Dr. Regina Elsner, Berlin