Sitzung der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft beim 15. Petersburger Dialogs in Potsdam, 23. Oktober 2015

Die Sitzung der AG Zivilgesellschaft am 23. Oktober 2015 in Potsdaem war im Rahmen des 15. Petersburger Dialog dem aktuellen Themenkomplex „Massenflucht und Migration als gesellschaftliche Herausforderung in beiden Ländern“ gewidmet.

Mitglieder der deutschen und der russischen Arbeitsgruppe hatten sich zur Vorbereitung des 14. Petersburger Dialoges in Potsdam bereits am 15. September 2015 in den Räumen von MEMORIAL in Moskau getroffen, um den Themenschwerpunkt der zivilgesellschaftlichen Arbeitsgruppe festzulegen.

Bei den Gesprächen standen die Auswirkungen der immer restriktiver werdenden Anwendung der Bestimmungen des so genannten „Agentengesetzes“ sowie des neuen „Gesetzes gegen unerwünschte ausländische Organisationen“ im Vordergrund. Infolge der neuen Gesetzgebung hat sich die Finanzsituation vieler russischer NGOs drastisch verschlechtert. Ausgehend vom Generalthema des Potsdamer Treffens „Modernisierung als Chance für ein gemeinsames europäisches Haus“ kamen die Teilnehmer des Treffens überein, sich in Potsdam über die Frage auszutauschen, wie die Zivilgesellschaft mit den Herausforderungen umgeht, die sich infolge der Fluchtbewegungen stellen: „Massenflucht und Migration als gesellschaftliche Herausforderung in beiden Ländern“ wurde als Themenschwerpunkt für die Forumsveranstaltung festgelegt. Trotz der extrem knappen Vorbereitungszeit ist es beiden Teilen der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ anschließend gelungen, zu diesem Thema zivilgesellschaftliche Expertinnen und Experten zu gewinnen, die in Potsdam plastisch und aus „erster Hand“ von ihren Erfahrungen berichteten.

Einführend wurden die nie da gewesenen Herausforderungen geschildert, vor die die Ankunft von bis zu 10.000 Flüchtlingen täglich die deutsche Politik und Gesellschaft stellten. Bislang seien viele in der Gesellschaft bereit, sich der Aufgaben anzunehmen. Unterschiedlichste private Initiativen, die von Kleidersammlungen über Sprachkurse und Integrationshilfen bis hin zur Organisation medizinischer Hilfe reichten, trügen dazu bei, die Situation zu bewältigen. Allerdings gäbe es politische Risiken, denn insbesondere vom rechten Rand der Gesellschaft würden die Probleme genutzt, um für die eigenen politischen Ziele zu mobilisieren. Insgesamt nehme die Zustimmung zur Politik der Bundesregierung, die Grenzen offen zu halten und Flüchtlinge aufzunehmen, eher ab. Die Anzahl der Übergriffe etwa auf Flüchtlingsunterkünfte habe sich drastisch erhöht. Im Zuge der öffentlichen Debatte seien bereits Verschärfungen des Asylrechts vorgenommen worden, die wiederum von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert worden seien. Insbesondere der Schutz der Gruppe der Roma, deren Verfolgung auch in Russland ein Problem sei, sei von dem System „sicherer Herkunftsstaaten“ beeinträchtigt worden.

Von russischer Seite wurden die humanitären Aspekte der Folgen von Flucht und Migration in den Vordergrund gestellt: Es gehe um Solidarität. Im Kontext des „europäischen Hauses“ sei nicht in erster Linie an dessen Wände, sondern an seine Bewohner zu denken. Es gelte, eine Kultur des Verständnisses zu erreichen, denn Menschen und Ethnien unterschieden sich. Russland verfolge da einen eigenen Ansatz. Das Land habe 2,5 Mio. ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, die aus unterschiedlichsten Gründen gekommen seien.

In Impulsreferaten berichteten dann Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen oder Initiativen, die sich im Themenbereich engagieren, aus ihrer Arbeit. So blickt eine deutsche Initiative auf eine mehrjährige Tradition zurück: In einem gutbürgerlichen Stadtbezirk in Berlin seien vor einigen Jahren Flugblätter gegen ein dort geplantes Flüchtlingsheim aufgetaucht. Mögliche Folgen für die Sicherheit des Schulwegs seien dort genauso thematisiert worden wie ein möglicher Wertverlust von Häusern und Wohnungen. Diese Vorbehalte gegen Flüchtlinge hätten viele Anwohner nicht hinnehmen wollen. Sie hätten Anwohnerversammlungen organisiert, in denen über die Lage der Flüchtlinge informiert und für ein Engagement zu Gunsten der Flüchtlinge geworben worden sei. Im Zuge dieser Diskussion sei schließlich Ruhe eingekehrt. Mit dem Heim habe es dann keine besonderen Probleme gegeben; sogar ursprüngliche Kritiker hätten sich schließlich in der Initiative engagiert. Die jetzt stark angestiegenen Flüchtlingszahlen und die vielen Probleme im Zusammenhang mit ihrer Unterbringung hätte die Initiative belebt und gestärkt. Der Staat habe sich offensichtlich überfordert gezeigt; für die Initiative sei es einfach darum gegangen zuzupacken und den ankommenden Menschen zu helfen. Es habe Defizite in der Kommunikation zwischen der Politik und den Bürgern gegeben, die oft nicht gewusst hätten, was „die Politik“ im Hinblick auf die Unterbringung der Flüchtlinge gerade plane. In dieser Situation seien es wiederum die Anwohner gewesen, die die Initiative ergriffen hätten: Verantwortliche Politiker seien eingeladen und nach ihren Plänen befragt worden. Bei den Politikern habe es Skepsis gegeben, ob es gelinge, das ehrenamtliche Engagement in sinnvolle Bahnen zu leiten. Die Initiative habe die Dinge aber gut organisieren können; inzwischen würden täglich mehr als 5.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit von Menschen unterschiedlichster Berufe geleistet. Ärzte und Anwälte brächten ihre berufliche Kompetenz ein. Ohne solches Engagement hätte der Staat die Flüchtlinge nicht ordnungsgemäß versorgen können.

Die Motivation der Menschen sei sehr unterschiedlich und reiche von humanitärem Engagement bis zu einer Reaktion auf rechte Aktivitäten gegen Flüchtlinge. Insofern handele es sich auch um eine politische Bewegung. Das Verhältnis zur Politik habe sich gewandelt; dort nähme man die Initiative jetzt ernster. Das liege auch daran, dass der professionelle Hintergrund des ehrenamtlichen Engagements von Politik und Verwaltung mehr und mehr gesehen werde. Natürlich sei die Initiative der Verwaltung nicht angenehm, weil man Druck auf sie ausübe. Aber dieser Druck sei immer mit dem Angebot eigenen Engagements verbunden. Staat und Zivilgesellschaft wirkten so in einem sich entwickelnden Prozess zusammen, dessen Ergebnis fruchtbar sei.

Von russischer Seite wurde demgegenüber auf das große Misstrauen hingewiesen, das in Russland zwischen Staat und unabhängiger Zivilgesellschaft herrsche. So seien verschiedene Anwesende durch die Mitwirkung in mehreren Organisationen inzwischen gleich mehrfach bei „ausländischen Agenten“ tätig. Der russische Staat strebe derzeit danach, die unabhängige Zivilgesellschaft zu zerstören. Er verkenne dabei, dass gerade ein großes Land wie Russland auf eine funktionierende Zivilgesellschaft angewiesen sei. Das habe Folgen über Russland hinaus, denn ein europäisches Haus sei ohne eine unabhängige Zivilgesellschaft, die international vernetzt ist, nicht zu errichten.

Die Anfänge zivilgesellschaftlichen Engagements im Bereich von Flüchtlingen und Migration in Russland reichten in die Zeit der Sowjetunion zurück. Die damalige durch den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ausgelöste Fluchtbewegung auch nach Moskau habe die darauf nicht vorbereiteten Behörden überfordert. Engagierte Bürgerinnen und Bürger seien initiativ geworden und hätten das Organisieren von Hilfe selbst in die Hand genommen.

Die aktuelle Fluchtbewegung aus der Ukraine habe die Behörden ebenfalls unvorbereitet getroffen; wiederum habe es ehrenamtliches Engagement gegeben, um die Probleme zu bewältigen. Einige Teilnehmer wiesen darauf hin, dass die in den Medien und auch in der Politik genannten Flüchtlingszahlen von ein bis zwei Millionen Ukrainern, die nach Russland geflohen seien, bewusst weit übertrieben seien. Jetzt bekannt gegebene Zahlen des föderalen Migrationsdienstes lägen weit darunter. So seien weniger als 300 Menschen aus der Ukraine als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden. Rund 300.000 Ukrainer hätten einen befristeten Flüchtlingsstatus erhalten. Nähme man die Ukrainer hinzu, die bei ihren Familien Zuflucht gefunden hätten, ohne sich als Flüchtlinge zu melden, sei wohl eine Zahl von 500.000 bis 600.000 Flüchtlingen realistisch. Von dieser Größenordnung gingen auch die Vereinten Nationen aus.

Anfangs habe es unter dem Eindruck des Krieges eine große Aufnahmebereitschaft gegeben. Berichtet wurde auch über zivilgesellschaftliche Initiativen aus Russland, die der humanitären Lage in der Ostukraine, insbesondere der Versorgung von Krankenhäusern und traumatisierten Kindern gegolten hätten. Von deutscher Seite wurde ergänzt, dass die Lage zusätzlich dadurch erschwert worden sei, dass die Behörden in Luhansk und Donezk den Zugang internationaler Hilfsorganisationen praktisch weitgehend verhindert hätten.

Die Lage für flüchtende Ukrainer in Russland sei im weiteren Verlauf dann aber schwieriger geworden. So sei der weitere Zuzug von Flüchtlingen etwa in Moskau und Sankt Petersburg durch neue Rechtsvorschriften verhindert worden. Dadurch könnten insbesondere in den Ballungszentren bereits ansässige Ukrainer zuziehende Verwandte nicht unmittelbar unterstützen. Auch in der Bevölkerung habe sich das Klima geändert; bei NGOs gingen zunehmend Nachrichten über Konflikte mit ukrainischen Zuwanderern ein.

Insgesamt habe es seit dem Beginn der dritten Amtszeit Präsident Putins etwa 40 Gesetzesverschärfungen mit Auswirkungen auf die Lage von Migranten und Flüchtlingen gegeben. Auch die Lage derjenigen, die sich hier zivilgesellschaftlich engagierten, sei schwieriger geworden, weil Hilfeleistungen kriminalisiert worden seien. Im Bildungsbereich habe eine neue Verordnung zu Schwierigkeiten geführt, weil Kinder nicht registrierter Personen nicht mehr zum Schulunterricht angemeldet werden könnten. Dies bedeute einen klaren Verstoß gegen Art. 43 der russischen Verfassung, der jedem – unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft – das Recht auf Bildung garantiere. Eine von NGOs unterstützte Beschwerde sei vom Obersten Gerichtshof gleichwohl zurückgewiesen worden.

Insgesamt stellten die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen eine große Herausforderung dar, zumal viele Migranten dazu tendierten, unter sich zu bleiben. Es komme darauf an, ein wirksames System der Integration zu schaffen. Ansätze hierzu – so einige russische Teilnehmer – würden auch von neu gegründeten staatlichen Strukturen verfolgt, die sich etwa um die Gewährleistung von Rechtshilfe für Migranten kümmern sollten. Auch von diesen Teilnehmern wurde aber betont, dass der Staat allein die Probleme nicht lösen könne und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft unabdingbar sei.

Weiter befasste sich die Arbeitsgruppe mit Übergriffen aus der Bevölkerung, die es gegenüber Migranten und Flüchtlingen in beiden Ländern gibt.

In Deutschland habe es bereits 2014 einen starken Anstieg von Straftaten in diesem Bereich gegeben. Allein auf dem Gebiet der früheren DDR sei es zu 782 Angriffen auf etwa 1.000 Personen gekommen, wobei es eine hohe Dunkelziffer gebe. Dabei ginge es nicht um Fälle von allgemeiner Diskriminierung, die weit häufiger seien. In den genannten Fällen seien die Opfer physisch attackiert worden. Insgesamt seien in Deutschland seit 1990 178 Menschen infolge rechtsextremer Gewalttaten ums Leben gekommen. Politik und Strafverfolgungsbehörden hätten die Dimension des Problems lange nicht zur Kenntnis genommen. Noch heute lägen die offiziellen Zahlen unter denen, von denen tatsächlich auszugehen sei. Inzwischen würden auch Politiker und Politikerinnen physisch angegriffen, die sich für Flüchtlinge einsetzten. Ehrenamtliche Helfer würden bedroht und seien auch schon von Brandstiftungen betroffen gewesen. Im Focus der Übergriffe stünden aber Heime und Unterkünfte für Flüchtlinge. Im ersten Halbjahr 2015 habe es auf solche Einrichtungen 600 Angriffe gegeben. Auch wenn sich rechte Gewalt gegen Individuen richte, müsse man sie als Botschaftsverbrechen verstehen, die signalisieren sollten: „Wir wollen Euch hier nicht; Ihr seid hier nicht sicher!“

Bei der Entwicklung rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland habe es drei Zäsuren gegeben:

  1. Die Brandanschläge und Übergriffe auf Flüchtlinge und Migranten Anfang der 90er Jahre in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen;
  2. die lange unentdeckt gebliebene Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) von 2000 bis 2006 und
  3. die Organisation von Bürgerinitiativen und -protesten durch rechte Gruppen im sächsischen Schneeberg 2013 und letztlich die Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“)-Bewegung seit Oktober 2014.

All dies stelle die Zivilgesellschaft vor ganz erhebliche Herausforderungen, für die die internationale Zusammenarbeit und der Erfahrungsaustausch wichtig sei. Es habe in der Vergangenheit Treffen zwischen russischen, ukrainischen und deutschen Gruppen gegeben, die wertvolle Erkenntnisse geliefert hätten und unbedingt fortgesetzt werden müssten.

Auch in Russland seien Gewalttaten gegen Migranten und Flüchtlinge seit vielen Jahren ein ernstes Problem. Dabei seien es vor allem drei Faktoren, die den Boden für nationalistische rechte Gewalt bereiteten:

  • man sei sich wechselseitig so fremd, dass es teilweise zu „Kulturschocks“ komme, wenn man sich begegne;
  • Politik, Behörden und Medien stellten die Kriminalität unter den Fremden heraus, thematisiere aber die Gewalt gegen Fremde nur unzureichend;
  • insgesamt widme sich die Politik dem Problem unzureichend.

Was die Kriminalstatistiken angehe, werde nicht erwähnt, dass ein Großteil der von Flüchtlingen und Migranten begangenen Straftaten Verstöße gegen die rechtlich problematischen Registrierungsbestimmungen beträfen. Andere würden straffällig, indem sie versuchten, sich gefälschte Dokumente zu beschaffen, um ihren Aufenthalt zu legalisieren. Verschwiegen würden extremistische Straftaten gegen Migranten und Flüchtlinge. Besorgniserregend sei die Entwicklung nationalistischer Organisationen in den letzten Jahren. War zunächst vor allem die 30.000 Mitglieder zählende „Bewegung gegen illegale Immigration“ aktiv, die heute „bürgerlicher“ agiere und eher nicht mehr durch Aktionen hervortrete, hätten sich Mitte der 2000er Jahre Banden gebildet, die Bombenattentate gegen Märkte verübten, auf denen Migranten tätig sind. Besondere Bedeutung habe die berüchtigte Gruppe „BORN“ erlangt. Wegen der Morde an dem Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Barburowa sei ein führendes Mitglied dieser Gruppe verurteilt worden. Auch der Mord an einem in Verfahren gegen rechtsextreme Gruppen tätigen Richter wird der Gruppe „BORN“ zur Last gelegt.

In der letzten Zeit seien Gewalttaten aus dem rechtsextremen Bereich insbesondere in den Großstädten eher zurückgegangen. Die Szene sei demobilisiert, was mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhänge. Viele Gewalttäter seien dorthin gegangen, um zu kämpfen; nicht nur auf der Seite der Separatisten.

Nach Auffassung der russischen Teilnehmer müsse die rechte Gewalt strafrechtlich bekämpft werden. Hier geschehe zu wenig. Stattdessen sähen sich Flüchtlinge und Migranten umgekehrt oft „fabrizierten Anklagen“ gegenüber. Obwohl nicht selten offenkundig sei, dass die strafrechtlichen Vorwürfe unbegründet seien, könnten sich die Betroffenen vor Gericht nicht wirksam verteidigen und würden zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Insbesondere Tadschiken würden dann in den Haftanstalten Opfer weiterer Übergriffe.

Mit strafrechtlichen Mitteln allein lasse sich dem Problem rechtsextremer nationalistischer Gewalt aber nicht beikommen. Gefordert seien Maßnahmen auf drei Feldern:

  • unabhängige NGOs müssten bei ihren Bemühungen um Flüchtlinge und Migranten politisch und gesellschaftlich unterstützt werden;
  • Menschen mit Migrationshintergrund müssten in die Rechtsschutzorgane integriert werden;
  • die Medien müssten unvoreingenommen über die unterschiedlichen nationalen Kulturen berichten.

Erforderlich sei, dass die Gesellschaft einen klaren Blick auf rechtsextreme Aktivitäten auch da habe, wo sie legal seien, aber das öffentliche Bewusstsein geradezu zersetzten.

In der Diskussion wurde zu beiden Ländern die Frage problematisiert, ob es überhaupt richtig sei, dass NGOs bei der Hilfe für Flüchtlinge teilweise an die Stelle des Staates träten und dessen Aufgaben übernähmen, statt ihn zu drängen, die ihm obliegenden Aufgaben sachgerecht zu erfüllen. Es gab Konsens, dass sich beides nicht ausschlösse. Die Lage erfordere gesellschaftliches Engagement. Das schließe Kritik an staatlichen Defiziten nicht aus und mache diese sogar glaubwürdiger.

Unter den Teilnehmern der Arbeitsgruppe bestand Einigkeit, dass den beschriebenen Herausforderungen nur unter Mitwirkung einer starken und unabhängigen Zivilgesellschaft, die auch international zusammenarbeite, wirksam begegnet werden könne. Aufgabe beider Staaten sei es, hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen. Auch Deutschland weise hier Defizite auf. So habe die inzwischen wieder abgeschaffte „Extremismus-Klausel“ grundlegendes Misstrauen des Staates gegen unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement signalisiert: Vorübergehend sei eine finanzielle staatliche Unterstützung ehrenamtlichen Engagements gegen Rechtsextremismus daran geknüpft worden, dass eigenhändig eine Erklärung unterschrieben wurde, dass die jeweilige Organisation und die von ihr ausgewählten Partner für die freiheitlich demokratische Grundordnung einträten. Was die internationale Zusammenarbeit angehe, müsse die Bundesregierung alles tun, um zu Visaerleichterungen zu kommen und dazu beitragen, dass wechselseitige gesellschaftliche Kontakte unproblematisch möglich seien.

Vor allem aber trügen die gesetzgeberischen Maßnahmen, die der russische Staat insbesondere seit 2012 gegen unabhängige NGOs ergriffen habe (u.a. „Agentengesetz“), dazu bei, dass die zur Problemlösung und Modernisierung des Landes so dringend benötigte Zivilgesellschaft derzeit regelrecht verkrüppele. Nachdrücklich wiesen russische Teilnehmer darauf hin, dass sie nicht irgendwelche Aufträge aus dem Ausland erfüllten, sondern schlicht täten, was sie derzeit als geboten ansähen. Man wolle gemeinsam mit staatlichen Behörden aber unabhängig von ihnen die Probleme, die sich stellten, angehen. Dem verschließe sich der Staat derzeit vollständig mit seiner absurden Entscheidungspraxis zum „Agentengesetz“. Dass der Präsident selbst eine Überarbeitung des Gesetzes angekündigt habe, die dafür sorgen solle, dass künftig nur noch Parteien und ähnliche Strukturen von dem Gesetz betroffen seien und eine Kommission insoweit Vorschläge erarbeite, sei – so einige der russischen Teilnehmer – ein Anlass zur Hoffnung. Unter den Teilnehmern der Arbeitsgruppe bestand aber Konsens, dass die Aufhebung des „Agentengesetzes“ zu fordern sei. An beide Ko-Vorsitzenden des Petersburger Dialoges werde appelliert, sich öffentlich für die Aufhebung des Gesetzes einzusetzen.

Fazit und weitere Aufgaben:

Die Konzentration auf einen vorher verabredeten Themenschwerpunkt, zu dem dann externe Experten eingeladen werden, hat sich bewährt und wird allgemein als positiv bewertet. Solche Experten könnten auch aus staatlichen Strukturen kommen. Es müsse dafür Sorge getragen werden, dass die Diskussionen und ihre Ergebnisse öffentlich zugänglich gemacht würden. Auf künftigen Treffen könnten die zivilgesellschaftliche Begleitung und Unterstützung von Minsk II und die Beschäftigung mit der totalitären Geschichte in beiden Gesellschaften Themen sein. Auch das heute erörterte Thema werde die Arbeitsgruppen aber sicher weiter beschäftigen.

Strukturell bestand der Wunsch, dass sich die russischen und die deutschen Vertreter der Arbeitsgruppe auch zwischen den großen Treffen als Gruppen begreifen, die sich treffen, um weitere Vorhaben zu erörtern und durchzuführen. Jelena Topolewa-Soldunowa auf russischer Seite und Peter Franck auf deutscher Seite werden die beiden Koordinatoren dabei unterstützen.

Bericht: Peter Franck