Arbeitstreffen der AG Zivilgesellschaft, Berlin, 18. Mai 2016

Am 18. Mai 2016 kamen die Mitglieder der AG Zivilgesellschaft in Berlin zu einem Arbeitstreffen zusammen, um Fragen des Vetrauens zwischen den Zivilgesellschaften Deutschlands und Russlands zu erörtern.  Außerdem wurde die Vorbereitungen zur Sitzung der AG beim 15. Petersburger Dialogs von 14.–16. Juli 2016 in St. Petersburg begonnen.

I. Thema des Arbeitstreffens: Vertrauen zwischen den Zivilgesellschaften Deutschlands und Russlands

Das diskutierte Thema geht auf einen Vorschlag der russischen Seite zurück, das sich angesichts aktueller Beispiele auch aus deutscher Sicht anbietet: Die gewaltsamen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht sowie der Fall Lisa boten den russischen Medien bzw. der staatlichen Propaganda Gelegenheit, jenen Ereignissen eine verzerrende Deutung zu geben und das Bild eines niedergehenden, vom Zustrom der Flüchtlinge überforderten Deutschland / Westen zu zeichnen.

Auf der anderen Seite ist aus Russland häufig die Klage zu vernehmen, deutsche Medien vermittelten unreflektiert ein überwiegend negatives Bild von Russland. Durch solche gegenseitigen (Fehl-)Wahrnehmungen erodiert Vertrauen zwischen den Gesellschaften. Wie können die Zivilgesellschaften diesem Prozess begegnen bzw. zur Wiederherstellung verloren gegangenen Vertrauens beitragen?

  1. Impulsreferat von Elena Topolewa-Soldunowa, Direktorin der NRO „Agentur für soziale Information“

Topolewa-Soldunowa stellte anhand aktueller Umfrageergebnisse einen tiefgreifenden Vertrauensverlust zwischen Deutschen und Russen fest. Nach Erhebungen des ARD-Deutschlandtrends sähen nur noch 15 % der befragten Deutschen in Russland einen vertrauenswürdigen Partner; 81 % seien der Meinung, dass man Russland nicht vertrauen könne. 47 % verstünden die Befürchtungen Russlands in Bezug auf den Westen, 50 % hätten kein Verständnis dafür. Zur Zeit der russisch-deutschen Allianz gegen den Irakkrieg hatten 41 % der Befragten in den neuen und 30 % in den alten Bundesländern eine positive Meinung von Russland; bereits ein Jahr später sei dieser Wert auf 18 % im Bundesdurchschnitt gefallen. Daran zeige sich, wie schnell Vertrauen verloren gehen könne.

Auf russischer Seite betrachteten nach einer aktuellen Umfrage des Lewada-Instituts nur noch 2 % der befragten Russen Deutschland als zuverlässigen Partner; 2011 wurde Deutschland noch als drittwichtigster Partner nach Belarus und Kasachstan genannt. Bei den verbleibenden 2 % handele es sich vermutlich um Menschen mit engen persönlichen Bindungen nach Deutschland. Daraus folge, dass dieser Kreis leider sehr begrenzt sei; das über die Medien vermittelte Bild spiele hier sicherlich eine Rolle.

Topolewa-Soldunowa zog drei Schlussfolgerungen: 1. Dialog und Kommunikation müssten fortgesetzt werden; selbst Streit und Auseinandersetzung seien besser als Schweigen. 2. Mehr Menschen als bisher müssten in diesen Dialog einbezogen werden. 3. Die Zivilgesellschaft müsse versuchen, auf die zwischenstaatlichen Beziehungen einzuwirken.

  1. Impulsreferat von Thomas Franke, freier Journalist und Autor u. a. für DeutschlandRadio, seit 2011 (erneut) in Moskau tätig

Franke stellte anfangs die These in den Raum, es könne kein Vertrauen ohne vertrauenswürdige Informationen geben. Er schilderte die Arbeitsbedingungen ausländischer Korrespondenten in Russland, die sich seit den Protesten gegen die Dumawahlen von 2011 sukzessive verschlechtert hätten: Zunehmend schwieriger werde es, Stellungnahmen von offizieller Seite zu erhalten; Fragen müssten meist im Voraus schriftlich eingereicht werden; es gebe kaum qualifizierte Auskünfte auf drängende Fragen, was eine ausgewogene Berichterstattung erschwere. Sie sei aber dennoch möglich, nur schwieriger und zeitaufwändiger. Seriöser Journalismus sehe sich der ergebnisoffenen Recherche, dem Gegenchecken von Informationen und der handwerklich sauberen Arbeit verpflichtet. Gerade der Vorwurf der einseitigen Berichterstattung motiviere dazu, vorliegende Informationen und die eigene Sicht auf diese noch kritischer zu hinterfragen. Begriffe wie „Informationskrieg“ seien bereits ein Erfolg der staatlichen russischen Propaganda, die den Bürgern einimpfe, Russland sei von Feinden umgeben. Ausländischen Journalisten werde infolgedessen großes Misstrauen entgegengebracht; verbreitet sei die Ansicht, der Journalist schreibe doch ohnehin nur, was der Chefredakteur bestelle; dieser erhalte seine Anweisungen von der Bundesregierung; diese wiederum sei von Washington gesteuert. Zu Falschmeldungen dürfe der Journalist aber nicht schweigen, sondern sei verpflichtet, sie als solche einzuordnen. Als Beispiel nannte Franke die falsche Äußerung Putins zu Verbindungen der Süddeutschen Zeitung zur amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, die – trotz späterer Richtigstellung durch Putins Sprecher – weiteres Misstrauen gesät habe. Das kremlnahe russische Institut für Strategische Forschung habe eine Studie mit einem Aggressionsindex für einzelne Journalisten für besonders negative Berichterstattung über Russland erstellt. Konsequenz für Journalisten könne aber nicht sein, unangenehme Fakten zu unterschlagen, oder dem Publikum die Wahrheit nur in verträglichen Dosen nahezubringen.

  1. Nachfolgende Diskussion

Einige Teilnehmer wiesen darauf hin, die genannten Umfragewerte spiegelten die Meinung der Befragten über die Regierung wieder, nicht über die Menschen, die sich gegenseitig häufig große Sympathie entgegenbrächten. Nach einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung hielten beispielsweise 95 % der befragten Deutschen und 84 % der Russen eine politische Wiederannäherung zwischen Russland und der EU für wichtig. Dennoch gebe es Vorurteile, die zu durchbrechen eine schwierige Aufgabe sei. Russische wie deutsche Vertreter stimmten überein, dass dies am besten durch persönliche Kontakte zwischen Menschen geschehen könne.

Einige Teilnehmer vertraten die Auffassung, es handele sich nicht um eine Vertrauenskrise zwischen der deutschen und russischen Gesellschaft, sondern zwischen der russischen Gesellschaft und der russischen Führung. Die zentrale Frage sei, wie der in den russischen Machtstrukturen vorherrschenden Auffassung, die russische Zivilgesellschaft arbeite gegen ihren eigenen Staat, entgegenzuwirken sei.

In der weiteren Diskussion offenbarten sich grundlegende Unterschiede in den Auffassungen über das Verhältnis von Politik und Gesellschaft. Manche russische Teilnehmer erklärten, politische Aktivität sei von gesellschaftlicher Aktivität zu trennen. In Russland habe über tausend Jahre der Staat über der Gesellschaft gestanden, dieZivilgesellschaft sei noch im Entwicklungsprozess. Zudem bestehe innerhalb des Petersburger Dialogs eine AG Politik, die sich mit politischen Fragen auseinandersetze. Die meisten deutschen Teilnehmer, aber auch einige russische, vertraten hingegen die Auffassung, eine Grenze zwischen Politik und Gesellschaft sei nicht erkennbar; es handele sich um ineinandergreifende Sphären. Politik sei Gestaltung des Gemeinwesens, nicht das Erringen von Macht.

Einzelne Teilnehmer sprachen den „größten weißen Elefanten“ an, der sich im Raum, aber auch zwischen Deutschland und Russland insgesamt befinde: Die Situation in der Ukraine. So habe bereits beim letzten Petersburger Dialog in Potsdam der Vorstandsvorsitzende der Sberbank, German Gref, über den Vertrauensverlust gesprochen, den Grund hierfür aber unerwähnt gelassen. Ohne eine Lösung des Ukraine-Konflikts sei dieses Vertrauen jedoch nicht wiederherzustellen; Zivilgesellschaft könne eine Plattform sein, wo politische Mechanismen wie OSZE und Europarat an ihre Grenzen stießen. Zustimmung hier auch von einigen russischen Teilnehmern: Nur die deutsche Zivilgesellschaft sei in der Lage, Initiator eines trilateralen russisch-ukrainisch-deutschen Dialogs zu werden; kein anderer Staat als Deutschland könne diese Rolle einnehmen.

In seinem Schlusswort resümierte Gernot Erler, die spannungsgeladene Zeit habe sich in realistischer Weise auch in der Diskussion gespiegelt. Es gebe einen Vertrauensverlust in Deutschland hinsichtlich der russischen Politik. Ein Grund hierfür sei auch, dass es im Minsk-Prozess keine Fortschritte gebe; die militärische Eskalation habe zu Ängsten, vor allem auch der osteuropäischen Staaten, geführt und ein generelles Klima der Unsicherheit geschaffen. Die Folge sei eine Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche wie z. B. Kultur, Wirtschaft, Medien, Zivilgesellschaft. Letztlich Zustimmung zu den Thesen der russischen Impulsreferentin, 1. Dialog intensivieren 2. Mehr Menschen einbeziehen 3. Auf die politische Entscheidungsebene einwirken.

 

II.Vorbereitung des Petersburger Dialogs von 14.–16. Juli in St. Petersburg

Der bereits im Vorfeld zwischen den beiden Koordinatoren für die AG-Sitzung in St. Petersburg verabredete Themenkomplex Erinnerungskultur/Gedenken wurde konkretisiert in „Der Umgang mit dem Erbe von Krieg und totalitärer Vergangenheit in Deutschland und Russland – neue Impulse und Projekte“. Hierdurch würden beide Aspekte – Erinnerung an den Krieg und die Menschen, die ihm zum Opfer fielen, sowie Umgang mit der totalitären Vergangenheit – vereint.

Vorgestellt werden könnten Initiativen der Erinnerungskultur wie die „Stolpersteine“ / „Letzte Adresse“, Schülerwettbewerbe 2016 in Russland zur Aufarbeitung der Vergangenheit, oder das von deutschen und russischen Historikern gemeinsam erarbeitete Geschichtsbuch. Unter Einbeziehung des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge und russischer Partnerorganisationen könnte das Thema „Versöhnung über den Gräbern“ (neues Projekt 2016: Kriegsgefangene – Erinnerungs- und Grabstätten in Deutschland und Russland) diskutiert werden. Von russischer Seite wäre auch eine kritische Einordnung des „Konzepts für die staatliche Politik der Verewigung des Gedenkens an die Opfer politischer Repression“ denkbar, dem eine kritische Bestandsaufnahme aus deutscher Sicht zur Erinnerung an die Opfer totalitärer Gewalt in Deutschland gegenüber gestellt werden könnte. Auch ein Austausch über Veranstaltungen anlässlich bedeutender Gedenktage (75. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22.06.16; 100 Jahre Oktoberrevolution 2017) wäre möglich. Einige Teilnehmer regten an, den Fall der Gedenkstätte der Geschichte politischer Repressionen „Perm-36“ noch einmal aufzugreifen und diesem beispielsweise die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam vergleichend gegenüber zu stellen.

Das Thema sollte trotz des historischen Bezugs eine zukunftsweisende Ausrichtung haben, etwa die gezielte Aufbereitung für Generationen, für die die totalitäre Erfahrung bereits Geschichte ist (Zeit nach den Zeitzeugen). Beide Koordinatoren werden auf Basis der eingebrachten Vorschläge ein Programm für die AG-Sitzung in St. Petersburg entwickeln.

Michail Fedotow schlug ferner vor, im Vorfeld der AG-Sitzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren aus St. Petersburg zusammenzutreffen. Hierfür sei nach bisheriger Planung Zeit zwischen der gemeinsamen Gedenkveranstaltung am Vormittag und der offiziellen Eröffnung des Petersburger Dialogs am Abend des 14. Juli.

 

III. Erklärung zu Ermittlungen gegen Walentina Tscherewatenko

Hinsichtlich eines von einigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe verfassten Textvorschlags für eine gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe zur Eröffnung eines Vor-Ermittlungsverfahrens seitens russischer Behörden gegen eines ihrer Mitglieder, Walentina Tscherewatenko, wurde beschlossen, den zwischen beiden Koordinatoren noch abschließend abzustimmenden Text auf der Webseite des Petersburger Dialogs zu veröffentlichen.

(Tscherewatenko wird der Verletzung von Verpflichtungen beschuldigt, die ihr als Leiterin einer Nichtregierungsorganisation, die gemäß dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (Art. 330.1) die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt, obliegen.)

 

IV. Einbindung des Sozialforums in die AG Zivilgesellschaft

Übereinstimmung, trotz Einrichtung der neuen Arbeitsgruppe zur Gesundheitspolitik die Anbindung des Sozialforums an die AG Zivilgesellschaft beizubehalten. Vorschlag der Initiatorin des Sozialforums, Anne Hofinga, bei AG-Sitzungen einen Tagesordnungspunkt für Berichte über Aktivitäten des Sozialforums bereit zu halten. Das Sozialforum wolle sich auch durch Themenvorschläge, passende Impulsreferate sowie Organisation vertiefender Begleitveranstaltungen zu das Sozialforum betreffenden Themen in die Arbeit der AG Zivilgesellschaft einbringen. Mögliche Themen seien beispielsweise eine Diskussion von politischen Aspekten bei der praktischen Bearbeitung sozialer Themen; Rehabilitation jugendlicher Straftäter bzw. die grundsätzliche Ausrichtung des Strafvollzugswesens; oder eine kritische Auseinandersetzung mit der häufig vorgebrachten These, die russische Führung betreibe eine Aufteilung in „harmlose“ soziale und „gefährliche“ politische NROen. Referate/Diskussionsergebnisse zu sozialen Themen aus der AG Zivilgesellschaft könnten mit Nutzen für die Alltagsarbeit auf der Webseite des Sozialforums veröffentlicht werden („best practice“, Nachhaltigkeit). Ferner unterstrich Hofinga die Notwendigkeit regelmäßiger Zwischentreffen der im Sozialforum vernetzten Organisationen zwecks Austausch und Besuch herausragender innovativer Einrichtungen. Diese Treffen hätten in der Vergangenheit stets in Russland und mit russischer Finanzierung stattgefunden; wünschenswert wären auch Treffen in Deutschland mit deutscher Finanzierung.

Gernot Erler hierzu: Themen, die das Sozialforum einbringen möchte, sollen vorab über die AG-Leiter vorgeschlagen werden. Die Durchführung von Zwischentreffen des Sozialforums in Deutschland mit Finanzierung von deutscher Seite sei grundsätzlich möglich, da das Sozialforum Teil der AG Zivilgesellschaft sei, müsse aber jeweils vor dem Hintergrund der finanziellen Möglichkeiten geprüft werden.