Sitzung der AG Zukunftswerkstatt, Hamburg, Januar 2012

„Die Auswirkungen der Wendejahre 1989/1991 auf die Entwicklung europäischer Nationalstaaten im 21. Jahrhundert“

Die Grenzen der russischen Revolution

Nachwuchseliten aus Ost und West diskutieren über den „russischen Frühling“

Vom 20.-21. Januar 2012 führte die Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialogs in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung eine Tagung zum Thema „Die Auswirkungen der Wendejahre 1989/1991 auf die Entwicklung europäischer Nationalstaaten im 21. Jahrhundert“ in Hamburg durch.

Die junge protestierende Mittelschicht Russlands kennt die Sowjetunion nur aus den Geschichtsbüchern und hegt Sympathien für Europa. Dennoch stellt die Idee von einem eigenen Weg die Westorientierung in Frage. Wie wird die Geschichte Russlands bewertet? Liegt die Zukunft des Landes in der EU oder in der Eurasischen Union? Junge Experten aus Russland und Mittelosteuropa setzten sich mit diesen Fragen in der 24. deutsch-russischen Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialogs auseinander.
Früher wollten die Russen konsumieren, …
Die Historikerin Katja Machotina betonte, dass der Kommunismus in der russischen Erinnerung nichts Negatives bedeute: „Beim zweiten Weltkrieg denkt man im Westen an den Holocaust, in Russland an den Sieg der roten Armee über die Nazis. Bei Breschnew denkt man in Deutschland an Stillstand, in Russland dagegen an Stabilität“. Deshalb sei das kommunistische Regime auch nicht aus politischen Gründen untergegangen, sagte der Oppositionspolitiker Ilja Ponomarev: „Die meisten Russen waren nicht gegen den Kommunismus im politischen Sinne, sie wollten einfach Konsum, sie wollten Jeans und Wurst.“ Sogar Stalins Kollektivierungen würden in Russland noch heute als notwendiger Schritt zur Industrialisierung des Landes betrachtet – Sowjetnostalgie bleibe ein wichtiger Teil der russischen Identitität.

… heute wollen sie mitreden.
Die heutige Opposition fordert dagegen faire Wahlen und ist damit genuin politisch. Das Paradoxe daran: „Wladimir Putin hat den neuen russischen Mittelstand durch seine Wirtschaftspolitik selbst geschaffen. Doch „Putins Kinder“ sind nun erwachsen und wollen ihre Freiheit nicht mehr um jeden Preis der Stabilität unterordnen,“ sagte Alexander Rahr. Er sieht in Putins neuem Wahlprogramm ein „zartes Pflänzchen Dialog“. Allerdings zeuge die Personalpolitik Putins, wie etwa die Ernennung des konservativen Dmitrij Rogosin zum Vizepremier, nicht von demokratischen Absichten. Auf der Sitzung wurde auch deutlich, wie sehr die zivilgesellschaftliche Entwicklung von den Möglichkeiten des Internets profitiert. Doch der Kommunikationswissenschaftler Iwan Zassurskij mahnte: „Oft wird im Internet stark vereinfacht und statt Demokratie kann sich ein gefährlicher nationalistischer Geist ausbreiten.“

Eurasien statt Europa
Das ukrainische wie das ägyptische Beispiel zeigen, dass eine Revolution noch lange nicht den Wunsch nach westlicher Demokratie bedeuten muss. Ähnliches gilt für Russland, so der Direktor des Moskauer Gumilev-Zentrums: „Die Facebook-Generation will die Revolution. Aber bei demokratischen Wahlen gewinnen die Traditionalisten.“ Wladimir Putin könne demnach gar keinen liberalen Schwenk vollführen – die Mehrheit der Bevölkerung würde ihm nicht folgen. Dmitri Suslow merkte hierzu an: „Die Idee eines neuen Staatenbundes auf postsowjetischem Territorium nimmt in Russland konkrete Gestalt an und eine Modernisierungspartnerschaft mit der manchmal hochnäsigen EU rückt in weite Ferne“. Dem Dozenten der Moskauer Higher School of Economics zufolge will Moskau ein „Europa der zwei Pole“.
Die Teilnehmer der Zukunftswerkstatt waren uneins, ob Russland künftig einmal mit der EU ein „gemeinsames europäisches Haus“ errichten könne. Vieles werde von der ambivalenten politischen Entwicklung in Russland abhängen – aber auch davon, wie tolerant die Europäische Union damit umgehe.
Die AG Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialogs wird vom Berthold-Beitz-Zentrum in der DGAP und der russsichen Informationsagentur Rosbalt koordiniert. Die 24. Sitzung fand in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsnetzwerk EUSTORY der Körber Stiftung statt.