Tagung der AG Kirchen in Europa, St. Petersburg, 3.-6. April 2017

Es gibt Tagungen, wo die vorgesehenen Themen durch aktuelle Ereignisse eine ungeahnt verschärfte Brisanz erfahren. Vom 3. bis 6. April 2017 tagte die Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ des Petersburger Dialogs in St. Petersburg. Sie begann also just an dem Tag und an dem Ort, wo mit islamistischem Hintergrund ein Terroranschlag auf die U-Bahn verübt wurde, dem mehr als ein Dutzend Menschen zum Opfer fielen.

Auf der geplanten Agenda standen Fragen wie: Welchen Rang, welchen Ort hat Religion in der säkularen Öffentlichkeit? Welche Gestalt, welche Wurzeln, welche Formatierungen prägen die Zivilgesellschaft? Wo liegen Parallelen hinsichtlich der Prozesse von Modernisierung, von Pluralisierung und Säkularisierung, wo Differenzen zwischen dem russischen und dem deutschen Kontext und den Rückwirkungen auf die jeweiligen Zivilgesellschaften? Welche Bedeutung hat religiöse Bildung in zivilgesellschaftlichen Prozessen? Motiviert sie zu zivilgesellschaftlichem Engagement, klärt sie es, orientiert sie es, irritiert sie? Welche Relevanz kommt ihr im Verhältnis zum Staat und zur Kirche zu? Solche schwerwiegenden Fragen, ohnehin von so großer Dynamik, dass man sich wundert, sie lediglich an zwei Tagen diskutieren zu sollen, erhielten nun durch den Terror nochmals dramatische Tiefenschärfe. Das merkte man den Vorträgen und Diskussionen dieser Tagung an und das prägte auch den Stil des Umgangs der 27 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (14 von russischer, 13 von deutscher Seite), die – unter der Leitung der beiden Koordinatoren der Arbeitsgruppe, Archimandrit Filaret (Bulekow) und Dr. Johannes Oeldemann – um Dialog und problemorientierten wie empathischen Diskurs bemüht waren, immer eingedenk der Situation und dem Ort der Diskussionen.

Deutlich wurde das bereits in den Überlegungen von Diakon German Demidow. „Religiöse Bildung und geistig-moralische Erziehung in der modernen russischen Gesellschaft“ zu diskutieren, hieß für ihn, dies in die Ausdifferenzierungsprozesse multipler Modernen zu stellen und mit Jürgen Habermas beiden, der gesellschaftlichen wie der religiösen Seite, Übersetzungsleistungen der eigenen Traditionen zuzumuten. Wie schwierig, wie konfliktbeladen dies sein kann, wurde spätestens dann deutlich, als vom Referenten mit „patriotisch“, „moralisch“, „religiös“ die Hauptprinzipien seines Ansatzes zur Diskussion gestellt wurden. Doch inwieweit ist religiöse Bildung überhaupt zivilgesellschaftlich wirksam? Kann man dies messen? Prof. Dr. Clauß Peter Sajak zeigte in seinem Vortrag „Was religiöse Bildung auch bewirkt. Ergebnisse einer empirischen Studie zum Einfluss religiöser Sozialisation“ anhand empirischer Forschungen, dass religiöse Sozialisation und Bildung durchaus nachhaltig zur Persönlichkeitsbildung wie zu gesellschaftlichem Zusammenhalt beitragen.

Ist dies aber in jedem staatlichen und gesellschaftlichen Umfeld möglich? Keineswegs, meinte jedenfalls Erzpriester Dmitrij Sisonenko in seinem Vortrag „Religiöse Bildung und Erziehung im Licht der ökumenischen Zusammenarbeit“. Er problematisierte die Gefahren einer Verabsolutierung staatlicher Neutralität in den Traditionen der Aufklärung und zeichnete demgegenüber im Rückgriff auf das Erbe der Patristik das Profil eines Christentums, das von den Narrativen Demut, Gastfreundschaft und Kritikfähigkeit gekennzeichnet sei. Erst so könnte ökumenische Begegnung und Vielfalt geschehen. Wie groß die Parallelen trotz erheblicher kontextueller Unterschiede mitunter sein können, stellten die Überlegungen von Frau Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek zum Thema „Vom Sinn religiöser Bildung. Ein protestantischer Beitrag in ökumenischer Perspektive“ unter Beweis. Ausgehend von der Pluralität ermöglichenden Gottesklausel in der Präambel des Grundgesetzes entfaltete sie in analoger Weise die Sensibilität für das Fragmentarische, die Hoffnung auf das Getragensein von Gottes Vergebung und die Kritik an einer Verabsolutierung des Materiellen.

Religiöse Bildung motiviert aber nicht nur zu zivilgesellschaftlichem Engagement. Sie wird selbst öffentlich, indem sie an öffentlichen Orten wie Museen, Plätzen, Konzerthallen stattfindet. Erzpriester Ilija Makarow zeigte in seinem Vortrag „Religiöse Bildung und Erziehung im kulturellen Bereich in St. Petersburg“, wie Kultur selbst zum Ort und Vollzug religiöser Lernprozesse wird. Die Beispiele aus Petersburg verschafften den Ausführungen nicht nur eine eindrucksvolle regionale Verankerung. Sie zeigten auch eine hohe Anschlussfähigkeit für Prozesse außerschulischen Lernens, wie sie in der Religionspädagogik in Deutschland wichtig geworden ist. Gleichwohl müssen die religionssoziologischen Grundlagen beachtet werden. Dies machte Prof. Dr. Frank M. Lütze mit seinem Vortrag zum Thema „Christlicher Religionsunterricht – nichtreligiöse Schüler: Wahrnehmungen im konfessionslosen Kontext Ostdeutschland“ deutlich. In einem Kontext, in dem die Menschen selbst vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, in dem sie mit 80% Konfessionslosen der Religion stark gleichgültig gegenüberstehen, braucht es besondere Rechtfertigungen und Methoden für religiöse Bildung.

Angesichts zunehmender Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit, aber auch um die eigene positive Religionsfreiheit wirklich wahrnehmen zu können, ist religiöse Bildung erforderlich. Ein tolerantes wie bewusstes Miteinander der Zivilgesellschaft wird möglich. Bildung braucht Praxis. Und so lag es nahe, vor dem Hintergrund der Diskussionen im Sinne teilnehmender Beobachtung Orte religiöser Bildung aufzusuchen Daher führte am Mittwochnachmittag eine Exkursion zur Orthodoxen Schule Hl. Vladimir am St. Petersburger Auferstehungs-Neujungfrauen-Kloster, bevor ein Konzertbesuch von Verdis Requiem im berühmten Mariinskij-Theater die Tagung beschloss. Dieses Requiem war angesichts des Terroraktes eigens ins Programm des Theaters aufgenommen worden. So schloss sich in gewisser Weise der Kreis einer runden, diskursiven wie aber auch zugleich problemeröffnenden Tagung. Eigentlich sind nun die Fragen erst schärfer herauskristallisiert, an denen weiter gearbeitet werden müsste. Brisant sind sie ohne Zweifel.

Prof. Dr. Bernhard Grümme, Bochum