Tagung der AG Kirchen, Lutherstadt Wittenberg, 26.-28. Juni 2018

Die AG „Kirchen in Europa“ des Petersburger Dialogs traf sich vom 26. bis 28. Juni 2018 in Lutherstadt Wittenberg zu einer Fachtagung über „Grundprinzipien der Sozialethik“ aus russisch-orthodoxer, katholischer und evangelischer Sicht.

Eröffnet wurde sie am ersten Abend von Joachim Liebig, Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Archimandrit Filaret, Stellvertretender Vorsitzender des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats und Dr. Johannes Oeldemann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn. An dem Abend war ebenfalls der katholische Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige, zugleich Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz, zu Gast. Der Abend bestand aus einem Austausch über die Schwierigkeiten und Chancen im Hinblick auf die Vermittlung (sozial-)ethischer Positionen des Christentums in den modernen pluralistischen Gesellschaften sowie aus einer Rückschau auf das Reformationsjubiläum 2017.

Am Morgen darauf zielten die ersten Vorträge darauf ab, Grundpositionen der Sozialethik der jeweiligen Konfession vorzustellen. Prof. Dr. Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissen-schaftlichen Instituts der EKD, machte den Auftakt. Er profilierte evangelische Sozialethik ausgehend vom reformatorischen Verständnis von Gerechtigkeit, die dem Mensch allein aus Glauben (sola fide) zuteilwerde. So ist die Berufung des Einzelnen auch Ausgangspunkt für evangelisch-sozialethische Gerechtigkeitsüberlegungen.

Von katholischer Seite war es Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg, Professor für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn sowie Direktor der Katholischen So-zialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ), der die Grundlinien katholisch-sozialethischen Denkens unter Rückgriff auf Bibel und Tradition nachzeichnete sowie die Grundprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl der katholischen Soziallehre konturierte.

Frau Prof. Irina Silujanowa, Lehrstuhlinhaberin für Bioethik der Nationalen Russischen Pirogow-Forschungsuniversität für Medizin, brachte mit ihrem Vortrag die russisch-orthodoxe Sichtweise zur Relation zwischen Moral und Recht in die Diskussion ein. Ein Beispiel war das liberale russische Abtreibungsrecht, das sie mit Karl Jaspers als Ausdruck einer „kriminellen Staatlichkeit“ wertete.

Pfarrer Igor Blinow, der lange als Arzt in Stuttgart tätig war und inzwischen seit zehn Jahren sich als orthodoxer Priester um die seelsorgliche Begleitung der Kinder und Eltern in der Kinderpalliativstation des Moskauer Martha-Maria-Klosters kümmert, schilderte in seinem Vortrag die kindliche Wahrnehmung des Todes und unterstrich die Bedeutung der Seelsorge für die Palliativmedizin.

Am letzten Tag der Tagung stand das Feld der Bioethik im Fokus der Vorträge und Diskussionen. Pastor PD Dr. Michael Coors vom Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum in Hannover legte Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bewertung der Sterbehilfe zwischen katholischer und evangelischer Kirche dar. Die Freiheit des Einzelnen werde auf evangelischer Seite stärker betont, weshalb in Grenzfällen ein Entscheidungsspielraum beim Thema Suizid gesehen werde, etwa bei schwerster Not und Krankheit.

Pfarrer Wladimir Duchowitsch, Vorsteher der Gemeinde des hl. Alexius von Moskau und Leiter des Programms „Gegen Abtreibungen“, thematisierte ebenfalls die Problematik der Sterbehilfe sowie jene hinsichtlich der Leihmutterschaft. Ausführlich ging er zudem auf die ethischen Herausforderungen durch moderne Biotechnologien wie etwa der DNA-Schere zur Manipulation des menschlichen Erbguts ein.

Abschließend referierte Prof. Dr. Rupert M. Scheule, Professor für Moraltheologie in Regensburg, aus katholischer Sicht zu aktuellen bioethischen Debatten, die aus seiner Sicht immer auch rechtsethische Debatten seien. Ein besonderes Augenmerk lenkte er auf die rationale Begründbarkeit des Embryonenschutzes und damit der Ablehnung der Abtreibung mithilfe des erweiterten Potenzialitätsarguments.

Die Vorträge und konstruktiv geführten Diskussionen während der Tagung behandelten eine Vielfalt an aktuellen und kontroversen Themen, wobei sich der sozialethische Schwerpunkt vermehrt auf einen bioethischen verschob. Da hier unter den drei vertretenen Konfessionen auch Unterschiede deutlich wurden, führte dies zu erhellenden Einsichten in die ethischen Denkfiguren und Grundprinzipien der je anderen Konfession.
Besonders hervorzuheben ist das gelungene Rahmenprogramm: So gab es am ersten Tag die Gelegenheit, Wittenberg mit den Wirkstätten der Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon bei einer Stadtführung kennenzulernen. Am zweiten Abend lud die Evangelische Landeskirche Anhalts die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer Gondelfahrt mit Dinner durch den Wörlitzer Park, der zum UNESCO-Welterbe Gartenreich Dessau-Wörlitz gehört, ein. Somit machte nicht nur der lebendige ökumenische und deutsch-russische Austausch, sondern auch das Rahmenprogramm diese Tagung zu einer, die noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Deren Vorträge und Diskussionen boten nicht zuletzt nachhaltige Impulse für die je eigene sozialethische Reflexion.

 

Lars Schäfers, Wissenschaftlicher Referent der
Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ), Mönchengladbach