Sitzung der AG Kirchen in Europa beim 16. Petersburger Dialog in Berlin, 23./24. November 2017

Im Rahmen des 16. Petersburger Dialogs befasste sich die Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ am 24. November 2017 mit der Frage der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

In einer gemeinsamen Sitzung mit den Arbeitsgruppen „Zivilgesellschaft“ und „Medien“ stand das Thema „Helden und Krüppel – Menschen mit Behinderungen in den Medien und in der öffentlichen Wahrnehmung“ zur Diskussion. Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, wies darauf hin, dass es gelte, das Bewusstsein und die politische Kultur zu verändern. Menschen mit Behinderungen müssten in die politische Debatte einbezogen sein, damit sie ihre Bedarfe selbst formulieren könnten. In Deutschland bestehe ein deutlicher Nachholbedarf in Fragen der Umsetzung der inklusiven Bildung. Barrierefreiheit müsse in Form von leichter Sprache und Gebärdensprache ermöglicht werden. Tatjana Merzljakowa, Ombudsfrau für Menschenrechte der Region Swerdlowsk, berichtete, dass derzeit nur 2 % der russischen Kinder mit Behinderungen Zugang zu inklusiver Bildung hätten. Daher müsse es zum gesellschaftlichen Ziel werden, mehr Kindern diese Bildungsmöglichkeiten zu erschließen. Andrea Rothenburg, Regisseurin und Produzentin sowie 1. Vorsitzende des Vereins Psychiatrie in Bewegung e.V., gab einen Überblick über ihre Filmarbeit, die es zum Ziel habe, Beispiele geglückter Integration gegen die Angst vor und Abwertung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu setzen. Oberkirchenrat Klaus Eberl, Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vizepräses der EKD-Synode, berichtete über die Entstehungsgeschichte und die aktuelle Arbeit der Initiative Pskow in der Evangelischen Kirche im Rheinland, die eine Förderschule in Pskow gründete und ein System ambulanter Förderung des Wohnens im nachbarschaftlichen Umfeld implementierte. Menschen mit Behinderungen sei es nun möglich, am Alltagsleben in der Stadt teilzuhaben. Veronika Leontjewa, Leiterin des Bereichs Behindertenbetreuung in der Abteilung für Wohltätigkeit und soziale Dienste der Russischen Orthodoxen Kirche, berichtete von kirchlichen sozialen Projekten, um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen zu stärken. So sei ein Internetkanal in Gebärdensprache entstanden, es fänden inklusive Gottesdienste mit Gebärdendolmetschern statt und Web-Seminare zur Anleitung zur Arbeit mit Menschen mit Behinderungen.

Als verbindendes Thema der einzelnen Beiträge wurde das Ziel identifiziert, die positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit zu stärken. Archimandrit Filaret, Koordinator der Arbeitsgruppe „Kirchen“ auf russischer Seite, machte darauf aufmerksam, dass die zunehmenden Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik dazu führten, dass der Druck der Gesellschaft auf Paare, die ein behindertes Kind zur Welt brächten, steige. So sei zu vermuten, dass insbesondere die Anzahl der Kinder mit Down-Syndrom in den kommenden Jahren rapide sinken werde. Dies sei eine Anfrage an die Moral der Gesellschaft. Intensiv diskutiert wurde die Frage einer angemessenen Sprache. Der provokant gewählte Titel „Krüppel“ sei in der russischen Gesellschaft mit Kriegsversehrten verbunden. Dr. Ilja Seifert, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, plädierte dafür, die Ebene des Besonderen und damit auch Aussondernden oder Stigmatisierenden müsse verlassen werden. Galina Woronenkowa, Direktorin des Freien Russisch-deutschen Instituts für Publizistik der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau, berichtete über die gute Zusammenarbeit junger russischer und deutscher Journalisten bei den Paralympics in Sotschi. Diese hatten zusammen eine Sonderredaktion für die Zeitung „Der paralympische Reporter“ gebildet. Anne Hofinga, Vorstandsvorsitzende „Perspektive Russland e.V.“ und Michail A. Fedotov, Koordinator der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ auf russischer Seite, wiesen auf die gute Entwicklung des Sozialforums hin, das eine Plattform zum Austausch der Sozialinitiativen bilde. Aufgrund der guten Erfahrungen mit dem Austausch zwischen den drei Arbeitsgruppen wurde vereinbart, weitere gemeinsame Sitzungen anzudenken.

In der folgenden Sitzung der Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ stand das Thema „Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung“ im Mittelpunkt. Oberkirchenrat Prof. Dr. Martin Illert vom Kirchenamt der EKD stellte die Orientierungshilfe der EKD „Es ist normal, verschieden zu sein“ aus dem Jahr 2014 vor. Das Papier der Kammer für Bildung reagiere auf den gesellschaftlichen Perspektivenwechsel in Deutschland, bei dem Inklusion zum Leitbild eines umfassenden Wandels in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen geworden sei. Man verlasse dabei den medizinischen und gelange zu einem sozialen Begriff der Behinderung. Gleichberechtigte Anerkennung, Teilhabe und die Achtung der Würde und Autonomie des Einzelnen ständen im Mittelpunkt. Die Orientierungshilfe setze theologisch bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen an. Von besonderer Bedeutung sei, dass in den biblischen Berufungsgeschichten die von Gott Erwählten sich oftmals als ungeeignet empfänden, wodurch die Normalitätsvorstellung des Lesers infrage gestellt werde. Als Muster für eine inklusive Kirche diene der Orientierungshilfe das Bild vom Leib Christi bei Paulus. Voraussetzungen zu einer gelingenden Inklusion seien eine gesteigerte Sensibilität im Denken und Sprechen sowie ein Geschichtsbewusstsein für erfolgte Ausgrenzungen in der Vergangenheit. Ein aktuelles Thema sei die Frage nach den Chancen und Grenzen der Pränataldiagnostik. Des Weiteren würden in der Orientierungshilfe Fragen der Inklusion im Bildungsbereich sowie im Lebensalltag der Gemeinde behandelt.

Viktoria Leontjewa berichtete über die Aktivitäten der Russischen Orthodoxen Kirche, um Menschen mit Behinderungen zu helfen. Am Beginn ihres Referates stand ein geschichtlicher Rückblick auf die Anfänge der Arbeit mit gehörlosen und geistig behinderten Kindern in Russland. Nachdem das Verbot der Sowjetmacht aufgehoben sei, habe sich eine große Zahl kirchlicher Initiativen der Behindertenhilfe zugewandt. Inzwischen betätigten sich mehr als 400 orthodoxe Organisationen und jährlich kämen etwa 20 neue Projekte hinzu. Eine Sozialkonzeption biete allgemeine Richtlinien und in der Bildungsarbeit würde umfassend über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen informiert. Dennoch seien Kinder mit Mehrfachbehinderungen immer noch vielfach isoliert. Die Kirche versuche, die Hilfe zu leisten, die der Staat nicht gewährleisten könne. Besonders hervorgehoben wurde ein Training für Priester in Gebärdensprache. Bereits seit 25 Jahren gebe es Gottesdienste in Gebärdensprache und in jedem Jahr gründeten sich vier bis fünf neue Gemeinden für Menschen mit Taubheit. Ein neues Projekt sei ein Kommunikationszentrum, das mit Hilfe von Skype arbeite. Zudem gebe es ein Zentrum für Menschen mit umfassenden Einschränkungen durch Taubheit und gleichzeitige Blindheit.
In der sich anschließenden Diskussion betonte Gabriela Hockertz, Fachreferentin für Behindertenhilfe und Armutsprävention beim Caritasverband für das Erzbistum Berlin, wie wichtig es sei, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, gemeinsame Feste zu feiern und die leichte Sprache in alle Bereiche des gesellschaftlichen Alltags einzubeziehen. Im Blick auf die Pränataldiagnostik leiste die Schwangerschaftskonfliktberatung der Kirchen einen wichtigen Beitrag, da sie deutlich mache, dass auch das Leben mit einem behinderten Kind eine besondere Qualität haben könne. Angesichts der aktuellen Wahldebatten in Deutschland erinnerte Frau Hockertz daran, dass immer noch nicht allen Menschen mit Behinderungen ein Wahlrecht ermöglicht werde. Archimandrit Filaret beschrieb es als Aufgabe der Kirche, das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wach zu halten. Oberkirchenrat Eberl und Pfarrerin Petra Schwermann, Sprecherin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, beschrieben am Beispiel der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Hephata, Treysa, welche umfassenden Veränderungen durch die Inklusionsprozesse erzielt wurden. Erzpriester Sergij (Swonarjow) wies auf die Bedeutung der Liturgie als therapeutisches Mittel hin. Oberkirchenrat Dirk Stelter, Referent für Mittel-, Ost- und Südosteuropa im Kirchenamt der EKD, unterstrich die gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe der Kirchen, für ein Menschenbild einzutreten, das die grundsätzliche Bedürftigkeit und Angewiesenheit jedes Menschen vertrete und impliziere, dass nicht jegliche Beeinträchtigung in den Griff zu bekommen und jeder Mensch in bestimmten Phasen seines Lebens auf Unterstützung angewiesen sei. Dr. Illert regte die Gründung eines russisch-deutschen Elternforums an. Am Ende der Aussprache baten die Koordinatoren der Arbeitsgruppe, Dr. Johannes Oeldemann und Archimandrit Filaret, die Beteiligten, in Kontakt zu bleiben und den direkten Dialog und gegenseitige Besuche zwischen den kirchlichen Organisationen, die in der Behindertenhilfe tätig sind, zu fördern.