Tagung der AG Kirchen in Europa, München, 7.-10. Juli 2013

„Die moderne säkulare Gesellschaft: Herausforderung und Chance für die Kirchen“ – Die christlichen Kirchen in Russland und Deutschland sehen sich durch die säkulare Gesellschaft in vielfacher Hinsicht herausgefordert. Diese – kontextspezifisch unterschiedlichen – Herausforderungen zu analysieren, aber auch Perspektiven für eine gelingende Kommunikation des Evangeliums in der modernen Gesellschaft herauszuarbeiten, hatte sich die Arbeitsgruppe „Kirchen in Europa“ des Petersburger Dialogs für ihre Sitzung in München vom 7.-10. Juli 2013 vorgenommen.

Mit einer großen Delegation war der russische Teil der Arbeitsgruppe dieses Mal Gast der deutschen Seite, nachdem man sich im Mai in St. Petersburg getroffen hatte, um das Thema „Kirche in der Mediengesellschaft“ weiter zu vertiefen. Die Münchner Sitzung wurde von einem thematischen Rahmenprogramm begleitet, so dass sich die Teilnehmer im Gespräch mit der evangelischen „Kircheneintrittsstelle“ und der katholischen „Glaubensorientierung“ über konkrete Projekte informieren konnten, mit denen die Kirchen in Deutschland auf Menschen aus einem säkularen Umfeld zugehen. Besuche im Bayerischen Landtag und im Bildungszentrum der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth boten den Rahmen, um die zivilgesellschaftliche Rolle der Kirchen im Gespräch mit Landtagsvizepräsident Reinhold Bocklet und Herrn Armin Höller von der Stiftung weiter zu diskutieren. Einen besonderen Akzent setzte der Besuch des Grabs von Peter Boenisch, des Gründungsvorsitzenden des Petersburger Dialogs, in Gmund am Tegernsee.

Der inhaltliche Teil des Treffens fand in der Katholischen Akademie in München statt, wo das Erzbistum München und Freising die schönen Räume von Schloss Suresnes zur Verfügung stellte. In seinem Grußwort betonte Weihbischof i.R. Engelbert Siebler als Vertreter des Erzbistums die Herausforderung, in einer pluralistischen Gesellschaft Kirche zu sein. Er stellte klar, dass die Berufung auf die Tradition heute nicht mehr ausreiche, aber auch ein Rückzug der Kirche aus der Zivilgesellschaft nicht möglich sei. Die christlichen Kirchen stünden daher gemeinsam vor der Aufgabe, die Botschaft des Evangeliums im Kontext der heutigen Gesellschaft fruchtbar zu machen. Den Auftrag zum Dienst der Kirche an der Welt stellte auch der Koordinator der deutschen Seite, Dr. Johannes Oeldemann in den Mittelpunkt, indem er mit Worten aus der ersten Enzyklika von Papst Franziskus ‚Lumen fidei‘ betonte, dass der Glaube nicht von der Welt entferne, sondern vielmehr die Strukturen menschlicher Beziehungen und deren Grund in Gott erhelle und so die Menschen dazu befähige, gelingende Beziehungen in der Welt zu realisieren. Daher stelle der Glaube einen aktiven Dienst am Gemeinwohl dar, den es auszuloten gelte. Die Relevanz der Frage betonte auch der Koordinator auf russischer Seite, Archimandrit Filaret. Er verwies besonders auf die schwierige Herausforderung, dem christlichen Erbe einerseits treu und dennoch gesellschaftlich anschlussfähig zu bleiben. Dies sei insofern schwierig, als für gläubige Menschen Toleranz keine Beliebigkeit meine, sondern von den ewigen Werten des Evangeliums her betrachtet werden müsse.

Durch den ersten Vortrag von Dr. Jochen Ostheimer vom Lehrstuhl für christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München wurden die Teilnehmer grundlegend in die Thematik eingeführt. Den Platz der Kirche in der modernen Gesellschaft beleuchtete Ostheimer vor dem Hintergrund des 2. Vatikanischen Konzils und stellte heraus, dass sich die Kirche nach Auffassung des Konzils weder „gegen“ noch „über“ die Welt stellen dürfe, sondern „in“ die Welt gesandt sei und daher je aktuell die „Zeichen der Zeit“ zu deuten habe. Die Kirche stehe damit vor der Herausforderung, die Relevanz ihrer Botschaft im Blick auf aktuelle Herausforderungen zu verdeut-lichen. Angesichts des modernen Individualismus könne die Kirche dieser Aufgabe am besten in einer zivilgesellschaftlichen Perspektive gerecht werden, die sie zu einer Ausweitung ihres klassischen Verständnisses von Weltbeziehung nötige. Anhand der aktuellen Themen „Kruzifixe in öffentlichen Gebäuden“ und „konfessioneller Religionsunterricht an staatlichen Schulen“ wurde deutlich, wie herausfordernd dieses neue Rollenbild im konkreten Fall sein kann. Von russischer Seite wurde dabei vor allem das Problem gesehen, dass die Kirche es aufgrund des Einflusses radikal säkularer Kräfte schwer habe, mit ihrer Botschaft Gehör zu finden.

Im zweiten Vortrag von Diakon Roman Bogdasarov, dem Leiter des Sekretariats des Interreligiösen Rates Russlands, wurden die grundlegenden Mechanismen zur Regulierung der Beziehungen zwischen Religion, Staat und Gesellschaft aus russischer Perspektive analysiert. Dabei stellte Bogdasarov vor allem die bindende Kraft der Religion als Wertefundament der Gesellschaft in den Mittelpunkt, zeigte aber auch, dass dies in einer kirchenkritischen Medienlandschaft oft nur schwer zu vermitteln sei. Er formulierte so die Herausforderung, wie Kirche ihren Inhalten heute positiv Gehör verschaffen könne. Als besonders aussichtsreich stelle sich hier die partizipative Dimension dar, ein engagiertes Christentum in allen gesellschaftlichen Kontexten, das sich weniger autoritativ vermittelt, sondern den einzelnen Christen in dessen Lebenswelt in die Verantwortung nimmt. Dabei wurde auch die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und Kreise orthodoxen Christentums in Russland deutlich.

Die besondere Herausforderung, in einer säkularen Gesellschaft Familienwerte zu fördern, untersuchte der Vortrag von Erzpriester Maxim Obukhov, dem Vorsitzenden der gesamtrussischen Bewegung „Für Leben und Schutz der Familienwerte“. Er betonte die integrale Bedeutung der Familie für die Kirche, aber auch die Gesellschaft als Ganze. In der Diskussion wurde auf den Wandel des Familienbegriffs verwiesen. Als wichtige Perspektive erwies sich dabei, nach den tieferliegenden Werten gelingender Beziehung zwischen Lebenspartnern und in der Erziehung zu fragen und die Förderung dieser Werte als wichtiges Anliegen kirchlicher Kommunikation zu formulieren.

Dass positive kirchliche Werte wie Liebe und Treue, aber auch die lebensabträgliche Dimension der Sünde dabei nicht immer deckungsgleich mit gesellschaftlichen oder staatlichen Perspektiven sind, machte Prof. Dr. Athanasios Vletsis vom Institut für Orthodoxe Theologie der Universität München deutlich. Im kritisch-konstruktiven Gespräch mit der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche betonte er, dass Kirche ihre Werte in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr postulieren oder staatlich durchsetzen könne, sondern argumentativ einsichtig machen müsse. Zwar sei der Staat in der Pflicht, das Übel einzuschränken, aber eine positive Gestaltung zivilgesellschaftlichen Lebens sei Aufgabe und Verpflichtung der Kirche. Hier sei sie dann aber auch zu Deutlichkeit verpflichtet – beispielsweise dahingehend, dass ein säkulares Verständnis der Menschenrechte nicht Grundlage der Beliebigkeit sein könne. Vielmehr seien die Menschenrechte vom christlichen Begriff der unver-äußerlichen Würde des Menschen her als Schutz des Menschen vor staatlicher Willkür, aber auch als Verpflichtung füreinander zu entfalten.

Trotz verschiedener Positionen in Einzelfragen, die sich aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten in Deutschland und Russland ergaben, waren sich alle Teilnehmer der Tagung darin einig, dass es die gemeinsame Aufgabe aller Kirchen ist, als aktive Kraft an einer menschenwürdigen Gestaltung der Zivilgesellschaft mitzuwirken. Die solidarische Perspektive, den Mut zur Wahrheit und die Wichtigkeit des weitergehenden Dialogs betonte abschließend auch Archimandrit Filaret. Dr. Oeldemann schloss die Sitzung mit der Feststellung, dass die Tagung gezeigt habe, dass sich die Kirchen in Deutschland und Russland als konstruktiv-kritische Kraft in der Gesellschaft verstehen, die sich aus dem Glauben heraus für eine menschenwürdige Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen einsetzen.