Sitzung der AG Zivilgesellschaft im Rahmen des 12. Petersburger Dialogs, Moskau, 14.-16. November 2012

„Probleme der Zivilgesellschaft“, „Informationsgesellschaft“, „Die Rolle der Bürgergesellschaft bei der Lösung der sozialen Fragen“ – zu diesen und weiteren Themen  diskutierten die Mitglieder der AG Zivilgesellschaft im Rahmen ihrer Beratungen beim 12. Petersburger Dialog.

Vorbereitende Sitzung am 14.11.2012 („Tag Null“)

Am Vortag der AG-Sitzung im Rahmen des Plenartreffens des Petersburger Dialogs lud Memorial alle AG-Teilnehmer und weitere russische NROs zu einem vorbereitenden Arbeitstreffen ein. Ziel des Treffens war es, die Anliegen und die Argumente der Vertreter der russischen Zivilgesellschaft, die nicht an der Plenartagung teilnehmen konnten, für die am Folgetag stattfindende Sitzung vorzubesprechen.

Hauptthema der Diskussion, die den Titel „Probleme der Zivilgesellschaft“ trug, waren die schwierigen Rahmenbedingungen für die russische Zivilgesellschaft. Die in den letzten Monaten verabschiedeten Gesetze, vor allem die durch Änderung des NRO-Gesetzes eingeführte Kategorie „ausländischer Agent“, führe zu einer Spaltung der NRO-Szene, so die Sorge der Teilnehmer. Die Gesetze behinderten die Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft in Russland und damit auch eines auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beruhenden modernen Gemeinwesens. Auch die Wirtschaft könne von einer starken Zivilgesellschaft profitieren: von mehr Rechtssicherheit durch bessere Bürgerkontrolle und von Innovations- und Modernisierungsimpulsen aus der Mittelschicht. Die russischen Teilnehmer hielten die in Deutschland geführte kritische Diskussion über die Entwicklungen in Russland (u. a. den ohne Gegenstimmen im Bundestag angenommenen Antrag der Regierungskoalition) für notwendig und hilfreich. Es sei richtig, den innerrussischen Diskurs aufzugreifen und in die deutsche und europäische Russlandpolitik einfließen zu lassen.

Trotz Rückschlägen müsse die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit der tragende Pfeiler der deutsch-russischen Beziehungen bleiben, lautete das Votum aller Anwesenden. Dafür wolle man weiterhin einstehen und werben, gegenüber der Politik, gemeinsam mit der Wirtschaft und durch konkrete Projektkooperation.

Die Praxis, eine Sitzung am „Tag Null“ durchzuführen, wurde von den Vertretern der anderen Arbeitsgruppen des Petersburger Dialogs positiv bewertet.

Sitzung der AG am 15.11.2012

Folgende Themenblöcke standen in der dreieinhalbstündigen Sitzung auf der Tagesordnung:

  • Informationsgesellschaft – Bedingungen, Voraussetzungen und Perspektiven der Bürgerbeteiligung
  • Rahmenbedingungen für die NRO-Tätigkeit in der zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland
  • Die Rolle der Bürgergesellschaft bei der Lösung der sozialen Fragen

Ausgehend von kurzen Impulsvorträgen deutscher und russischer Teilnehmer wurden folgende Themen diskutiert: Bürgerbeteiligung in politischen und administrativen Prozessen am Beispiel von Wahlbeobachtungen; Öffentlich-rechtliches Fernsehen und Internet als Institution der zivilgesellschaftlichen Kontrolle; Freiwilligkeit, Wohltätigkeit und Sponsoring; Jugendaustausch; Probleme und Hindernisse der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Vertreter des Sozialforums im Petersburger Dialog berichteten, wie durch eine praktische, konstruktive und positive Arbeitsweise in Form konkreter deutsch-russischer Projektpartnerschaften sowie durch Schirmherrschaften und internationale Solidarität zivilgesellschaftlicher Organisationen im ersten Arbeitsjahr des Forums Erfolge erzielt werden konnten, besonders auch im Umgang mit staatlichen Strukturen. Ein Beispiel für diese konkrete Tätigkeit ist der unter der Schirmherrschaft des Forums vom 24.-28.09.2012 in Jekaterinburg durchgeführte 2. Allrussische Kongress der Menschen mit Behinderungen „Ohne das Kleine kein Ganzes. Finde Deinen Edelstein!“. Diese Veranstaltung wurde von deutschen und russischen Mitgliedern der Arbeitsgruppe mitorganisiert.

In Fortsetzung der Diskussion vom Vortag kam die gemeinsame Sorge der AG-Teilnehmer über die jüngsten Gesetze (Änderungen zum NRO-Gesetz, Wiedereinführung des Straftatbestands der Verleumdung, Ausweitung der Definition des Staatsverrats, Einschränkung der Versammlungsfreiheit, stärkere Kontrolle des Internets) zum Ausdruck, welche die zivilgesellschaftliche Arbeit in Russland erschwerten. Beide Seiten äußerten die Befürchtung, dass die neuen Regelungen die deutsch-russische Zusammenarbeit gefährdeten, weil zum Teil seit Jahren gemeinsam durchgeführte Projekte in Russland nicht mehr fortgesetzt werden könnten. Die Gesetze stellten die Grundsätze der deutsch-russischen, und damit auch der europäisch-russischen zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit in Frage. Dies untergrabe das eigene russische Modernisierungsbestreben und wirke sich auch nachteilig auf die Wahrnehmung Russlands im Ausland aus. Selbiges gelte neben den oben erwähnten Initiativen auch für Gesetze, die Minderheitenrechte beschränkten (z.B. Verbot sog. „LGBT-Propaganda“) oder für Entscheidungen und Urteile, die in jüngster Zeit gegen Kritiker und Oppositionelle ergangen seien.

Einigkeit bestand darin, dass einer Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen trotz Widrigkeiten aktiv entgegengewirkt werden müsse, und zwar durch eine engere Kooperation der zivilgesellschaftlichen Akteure. Der Appell an die Politik müsse lauten, die Zivilgesellschaft als Partner und nicht als Bedrohung zu begreifen und sie umfassend zu fördern statt mit administrativen und politischen Auflagen zu behindern. Die Politik müsse günstige Rahmenbedingungen für eine starke Zivilgesellschaft und einen regen Austausch schaffen: z.B. durch Visaerleichterungen, strukturelle Förderung von Freiwilligkeit und eine bessere Vernetzung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Aus der AG heraus sollen diese Forderungen an die Politik herangetragen werden. Auch der Petersburger Dialog als Ganzes solle Entwicklungen, die die Zivilgesellschaft insgesamt beträfen, deutlich zur Sprache bringen, beispielsweise beim Abschlussplenum in Anwesenheit der Bundeskanzlerin und des russischen Präsidenten.

Ergebnisse:

  • Erklärung der AG Zivilgesellschaft: Von den Teilnehmern wurde im Konsens ein Papier verabschiedet, das das gemeinsame Verständnis über die Grundlagen der zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit festhält und eine Orientierung für die zukünftige Arbeit der AG darstellt.
  • Jugendaustausch: In Reaktion auf das Plädoyer der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) für ein stärkere Finanzierung von Austauschmaßnahmen durch die russische Seite bestätigte der Vorsitzende des russischen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs, Wiktor Subkow, dass sich auch in Russland entsprechende Mittel finden lassen müssten. Die Bundesregierung stellt jährlich 2 Mio. Euro für den deutsch-russischen Jugendaustausch zur Verfügung, hinzu kommen private Mittel. Die Stiftung DRJA fördert damit jährlich ca. 600 Schüler- und Jugendbegegnungen mit ca. 12.000 Teilnehmenden. Auf russischer Seite gibt es bislang keine vergleichbar adäquate Finanzierung, was dazu führt, dass viele Begegnungen ausfallen.
  • Wie vor einem Jahr zwischen Memorial , Heinrich-Böll-Stiftung und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vereinbart, wird im April 2013 eine gemeinsame Konferenz zur Geschichte des Holocaust veranstaltet.
  • Bei der Bilanzierung der im Jahr 2012 geleisteten Arbeit hielten es die Koordinatoren für notwendig, im Budget des Petersburger Dialogs für das Jahr 2013 die Finanzierung der folgenden Veranstaltungen vorzusehen:
  1. Sitzung der AG im April 2013 in Deutschland
  2. Vorbereitende Sitzung der AG am „Tag Null“ des Petersburger Dialogs in Deutschland
  3. Zweite Phase der internationalen Konferenz „Staat und Individuum: Lehren der Vergangenheit, Konstruktion der Zukunft“ in Deutschland, voraussichtlich in Berlin. (Die erste Phase fand im Dezember 2012 in Moskau statt)
  4. Sommerschule für junge Historiker zum Thema der Konferenz „Staat und Individuum: Lehren der Vergangenheit, Konstruktion der Zukunft“ im Rahmen der Gedenkstätte „Perm 36“ an Orten der Verwaltungsregion Perm, die einen Bezug zum Thema haben
  5. Nächstes Sozialforum des Petersburger Dialogs in Deutschland (in den Jahren 2011 – 2012 fanden die Veranstaltungen des Sozialforums in Russland statt)

 

Dr. Andreas Schockenhoff, MdB                        Prof. Michail Fedotow

Koordinator für deutsch-russische                     Vorsitzender des Rates zur Förderung

zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit   der Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation