Sitzung der AG Politik beim 10. Petersburger Dialog, Jekaterinburg, 13.-15. Juli 2010

Das Schwerpunktthema für die die Arbeitsgruppe Politik lautete: „65 Jahre danach. Neues Europa, neues Russland, neues Deutschland. Europäische Sicherheitsarchitektur aus Sicht der Deutschen und Russen“. Geleitet wurde die Diskussion von Jens Paulus und Wladislaw Terechow.

Sowohl die russischen als auch die deutschen Teilnehmer waren sich einig: die internationale Entwicklung in Europa, insbesondere die der letzten 20 Jahre, schafft günstige Voraussetzungen für die Herausbildung eines zuverlässigen Sicherheitssystems, eines Systems, das den Wohlstand der europäischen Völker in einer langfristigen Perspektive gewährleistet. Das Ende der Konfrontation und die damit einhergehende sich stetig intensivierende Kooperation schufen ein Klima des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens. Dieses Klima bestimmte auch die Diskussion in der Arbeitsgruppe Politik über die Realisierungschancen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsstruktur. Gleichzeitig betonten die Diskussionsteilnehmer mit Bedauern, dass die durch das Ende des Kalten Krieges entstandenen diesbezüglichen Möglichkeiten bis heute nicht in vollem Umfang genutzt worden seien.

Die russischen Teilnehmer machten darauf aufmerksam, dass durch das Ende der Konfrontation die Möglichkeit entstanden sei, die euro-atlantische Beziehungsstruktur auf der Grundlage gemeinsamer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Werte mit den für alle Beteiligten einheitlichen Möglichkeiten, Rechten und Pflichten neu aufzubauen. Bedauerlicherweise sei diese Chance vertan worden. Die westlichen Partner Russlands hätten nicht adäquat auf das Ende des Ostblocks reagiert. Vielmehr habe man die Beziehungen mit den ehemaligen Sowjetrepubliken auf der Grundlage der alten Blockvorstellungen fortgesetzt. Der Westen habe es versäumt zur Kenntnis zu nehmen, dass Russland ein neuer und moderner Staat sei, der sich prinzipiell von der Sowjetunion unterscheide. Stattdessen habe man Russland als einen potenziellen Rivalen wahrgenommen, als Gegengewicht zur NATO.

Dennoch halten die Teilnehmer aus Russland die Neugestaltung der innereuropäischen Beziehungen hin zu einer gleichberechtigten und für alle Beteiligten vorteilhaften Zusammenarbeit für unbedingt möglich. In diesem Zusammenhang machten sie auf die Vorschläge Russlands zum Vertrag über die europäische Sicherheit aufmerksam.

Die deutschen Teilnehmer stimmten mit der Analyse der Ausgangssituation überein: seit 20 Jahren habe es keine so guten Voraussetzungen für eine Intensivierung der deutsch-russischen Kooperation gegeben. Dieses Momentum gelte es zu nutzen. Aus deutscher Perspektive liege die gemeinsame Verantwortung Russlands und der Europäischen Union darin, zu einer stabilen, friedlichen und ökonomisch prosperierenden multipolaren Weltordnung beizutragen. Aus Sicht der deutschen Teilnehmer könnten Russland und die europäische Union durch eine projektorientierte Intensivierung ihrer Kooperation ein dichtes Beziehungsgeflecht schaffen, in dem auch zukünftig zu erwartende Differenzen kooperativ beigelegt werden könnten. Unmittelbarer Kooperationsbedarf bestünde in folgenden Sachbereichen: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Modernisierung von Volkswirtschaften, Demografischer Wandel in beiden Gesellschaften, friedliche Konfliktbeilegung, Stärkung regionaler und globaler multilateraler Foren (G8, G20, OSZE und UNO). Durch die Etablierung eines engmaschigen Netzes von Kooperationsbeziehungen zwischen Russland, der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika könnten gute Voraussetzungen geschaffen werden, um in einem nächsten Schritt über Regeln und Grundsätze einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu verhandeln.

Eine für beide Seiten existierende langfristige Kooperationsherausforderung sahen die deutschen Teilnehmer im politischen und ökonomischen Aufstieg Chinas. Die daraus resultierenden Chancen – aber auch Herausforderungen -, die sich sowohl für die Russische Föderation als auch für die Europäische Union stellen werden, können von beiden Seiten nur in einer engen, auf Vertrauen und Offenheit basierenden Zusammenarbeit gemeistert und genutzt werden.

Beide Seiten stimmen darin überein, dass der bereits vorhandene Dialog zwischen der deutschen und der russischen Zivilgesellschaft weiter ausgebaut und vertieft werden muss. Die Öffentlichkeit beider Länder erwartet von den Regierungen zielstrebige Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Zusammenarbeit.
Im Laufe der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Situation in Europa im nicht geringen Masse durch die globale Entwicklung beeinflusst wird. Neben den neuen Herausforderungen und Bedrohungen übt die andauernde Wirtschaftskrise eine destabilisierende Wirkung aus. Die Diskussionsteilnehmer betonten, dass die Volatilität des internationalen Finanzsystems eine destabilisierende und schädliche Wirkung auf die Weltwirtschaft hat. Insofern sei es dringend notwendig, klare Regeln für die Finanzmärkte zu erarbeiten. Dies müsse im Rahmen der G8 respektive G20 geschehen.

Die Diskussion in der Arbeitsgruppe Politik verlief offen, sachlich und konstruktiv. Die Atmosphäre war geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Verständnis. Die Teilnehmer haben allesamt ihre Absicht bekundet, das Thema weiter zu vertiefen und sich noch vor dem nächsten Jahrestreffen für eine weitere Diskussionsrunde zusammenzufinden.

Geleitet wurde die Diskussion von Jens Paulus und Wladislaw Terechow.